Es ist Montag, der 28.05.2018. Manch andere starten gerade in die neue Arbeitswoche, ich sattele mein Fahrrad für eine Reise ins Unbekannte mit Start direkt vor der Haustür. Letzter Check: Fahrrad-Akku voll geladen, alle wichtigen Papiere eingepackt. Sonnencreme dabei. Sonnenbrille auf. Helm sitzt (auch wenn er ziemlich doof aussieht – egal). Die ersten Kilometer von zuhause ins Büro sind der letzte Testlauf. Auf dem Weg gabele ich noch meinen Freund und Kollegen Viktor auf. Er ist gerade in Elternzeit und hat zuhause einen Tag freigenommen, um mich auf der heutigen Etappe bis Meißen zu begleiten. Mir ist das gerade recht, und ich habe das Gefühl, er freut sich auch mal über eine Abwechslung auf dem Rad. Auch wenn er heute noch fluchen wird.
Im Büro wartet schon Nicolas, der Projektleiter der Kindervereinigung Dresden e.V., um mir eine gute Reise zu wünschen. Er bekommt am Ende den ganzen Spenden-Berg, hat also ein großes Interesse daran, dass ich gesund wieder zurückkehre. Heute sind fast alle mit dem Rad ins Büro gekommen, denn die ersten Kilometer fahren wir mit dem ganzen Team. Okay, zumindest bis zum ersten Biergarten, der jetzt schon geöffnet hat. Nach einem letzten Foto von der Abfahrt geht’s los – und entspannt den Elberadweg entlang. Im Biergarten angekommen, folgt der erste ernste Zwischenfall der Tour: nach meiner Parole „ich lade euch alle ein“ stelle ich fest, dass ich mein Portemonnaie im Büro vergessen habe. Und Karte nimmt man hier – natürlich – nicht. Geht ja gut los. Die Kollegen drehen den Spieß um und laden mich auf einen Kaffee ein. Gut, dass heute Abend noch ein „Begleitfahrzeug“ nach Meißen fährt und mir meine Geldbörse hinterherträgt. Auch wenn ich in Gedanken schon die Worte der Fahrerin, meiner Frau, erahne. Mit Blick auf die Elbe werden die letzten Themen geklärt, aber eigentlich ist mir jetzt schon etwas melancholisch zu Mute. Meine Familie werde ich ungefähr zur Halbzeit nochmal sehen, die Kollegen tatsächlich erst in einem Monat. Sie werden mir auch fehlen. Sicher hat es auch viel mit Loslassen zu tun, seine Firma komplett in die Hände der Mitarbeiter zu geben und einfach mal nicht da zu sein, obwohl mir dieses Thema nie ernsthaft Sorge bereitet hat. Aber das war vorher, und jetzt wird es eben Ernst.
Nach einer halben Stunde brechen wir auf – jetzt trennen sich unsere Wege: für Viktor und mich geht es die Elbe flussabwärts entlang ins ca. 25 Kilometer entfernte Meißen, für den Rest zurück ins Büro. Bei bestem Sommerwetter radeln wir den herrlichen Elberadweg entlang. Im Dresdner Stadtgebiet verlässt dieser nochmal kurz den Lauf der Elbe, um abzukürzen. Ab dem alten Dorfkern Alt-Kaditz geht’s wieder am Fluss entlang, über die weitläufigen Elbwiesen, vorbei am Radebeuler Ortsteil Kötzschenbroda mit seinem herrlichen Dorfplatz „Altkötzschenbroda“ samt unzähliger uriger Kneipen und Gartenlokale. Es ist noch zu früh am Tag, wir fahren weiter. Wir passieren einen verlockenden Badesee in Coswig, direkt neben dem Radweg. Auch gut für eine Rast: das Fährhaus Kötitz kurz vorm Badesee. In Ermangelung von Bargeld fahren wir weiter und hoffen auf ähnlich gute Gelegenheiten in Meißen, zu denen vielleicht sogar schon die Errungenschaften des neuen Jahrtausends (Kartenzahlung) durchgedrungen sind. Hinter Coswig weitet sich die Landschaft, die Elbwiesen werden breiter, und in der Ferne sehen wir jetzt das Spaargebirge, das vielleicht so heißt, weil es Sachsens kleinstes Gebirge ist. Gerade mal 3 Kilometer lang, 200 Meter breit und an der höchsten Stelle gerade mal knapp 200 Meter über Meeresspiegel, wobei auch die darunter fließende Elbe bereits 100 Meter über Meeresspiegel liegt. Es ist also wirklich ein sparsam dimensioniertes „Gebirgchen“. Aber wunderschön und – wie die ganze Umgebung – fest in der Hand der einheimischen Winzer, die hier so manchen leckeren Tropfen rausholen. Die restliche Strecke bis Meißen – wir sind an diesem ersten Tag insgesamt nur eine reichliche Stunde unterwegs – ist gesäumt von kleinen Weingütern, restaurierten Fachwerkhäusern, Weinbergen – und fast zu schön, um real zu sein. Meißen begrüßt uns mit seinem Meißner Dom und seiner Altstadt-Silhouette, auf die man von der rechtselbischen Flussseite einen herrlichen Blick hat. Der Optimismus war verfrüht, auch in Meißner Biergärten ist nur Bares Wahres. Also noch fix bei der Sparkasse eingekehrt, bevor wir endlich im Biergarten einkehren und bei einem zünftigen verspäteten Mittagessen noch ein Stündchen schwatzen, bevor sich Viktor auf den Rückweg macht und ich zum Hotel fahre. Wie ich später erfahre, wird er mit fiesem Gegenwind zu kämpfen haben, ihn aber souverän besiegen.
Ich hingegen habe nur noch ein paar Meter durchs rechtselbische Meißner Stadtgebiet vor mir, bevor ich das kleine, privat geführte Designhotel „Fährhaus Meißen“ erreiche. Gerade mal ein gutes Dutzend Zimmer gibt es hier, jedes individuell gestaltet, mit einer stilsicheren Mischung aus Designklassikern möbliert und mit einer Besonderheit versehen, die ich so noch nie erlebt habe: handbemalte Fliesen! Herr Paulsen, der Mann der Betreiberin, hat im Haus sein Atelier, in dem diese Kunstwerke entstehen. Jedes Zimmer hat hier ganz eigene Motive, die sich an verschiedenen Stellen wiederfinden. Diese sind handwerklich so perfekt gemacht, dass man erst kaum glauben mag, dass das hier alles Handarbeit sein soll. Man kann Herrn Paulsen aber auch in seinem Atelier über die Schulter schauen und natürlich auch ein Andenken für Zuhause kaufen. Die zweite Leidenschaft des Herrn Paulsen sieht man aber schon, wenn man im Innenhof des Hotels steht. Er kann das, wovon ich schon lange träume: zauberhaft schöne Garten-Paradiese schaffen. Man steht hier und denkt: das Paradies gibt es vielleicht nicht, aber dieser Innenhof in Meißen ist ziemlich nah dran. Neuerdings gehört auch der benachbarte kleine Weinberg mit zum Hotel, und auch hier sieht man schon die Spuren seines Schaffens. Ein schmaler, mit Natursteinen gesäumter Weg führt ein paar Meter den Berg hinauf, dann erreicht man einen hölzernen Pavillon, in dem man abends ein Glas Wein trinken und die Aussicht auf die Meißner Altstadt genießen kann. Es sind diese kleinen Momente, die einen Ort so wunderbar machen.
Herr Paulsen erwartet mich bereits in seinem Freiluft-Atelier, dem schon besungenen Innenhof. Er bestaunt mein E-Bike, natürlich immer mit einer gesunden Portion Misstrauen diesem modernen Kram gegenüber. Dass auch ich noch immer staune und ausprobiere und das Rad auch für mich noch Neuland ist, erzähle ich nicht so laut. Kurz darauf gibt es leckeren Kuchen und wunderbaren Cappuccino, wir sitzen mit den Paulsens und meiner mittlerweile samt Brieftasche hinzugestoßenen Frau im Garten und genießen den Sommernachmittag. Von mir aus könnte das jetzt auch schon das Ziel meiner Tour sein, aber okay, morgen geht der Ernst des Radelns ja erst los.
Meine Frau und ich lassen uns von den Paulsens noch zwei Gläser Rosé von Rothes Gut einschenken, erklimmen den Weinberg und genießen die letzten gemeinsamen Augenblicke, bevor auch sie nach Dresden zurückfährt und ich nun wirklich allein mit mir und meinem Rad bin. Während ich über die Elbbrücke in die Meißner Altstadt schlendere und eine Kleinigkeit esse, wird mir bewusst, dass es jetzt wirklich kein Zurück mehr gibt. Ich freue mich, und gleichzeitig ist da diese Ungewissheit, wie mir das wohl bekommen wird, so lange unterwegs nur mit mir, so lange ohne Familie. In all den Jahren waren wir ja höchstens mal für die Dauer eines verlängerten Männerwochenendes getrennt. Während ich abends den Fahrrad-Akku am Ladegerät und mich im herrlich bequemen Bett schlafen lege, überwiegt aber die Vorfreude – auf ein Frühstück im Hotel-Garten, auf die morgen anstehende erste ernsthafte Etappe und über die ersten Spenden-Euros: 25 Euro habe ich heute erstrampelt, auf 30 Euro hat das Hotel aufgerundet, macht 55 Euro. Gute Nacht!
Übrigens: Entdeckt haben wir das Hotel, als wir vor ein paar Jahren eine Familien-Radtour den Elberadweg entlang unternahmen. Ein sehr empfehlenswertes Haus, wenn man nicht in den üblichen Elbe-Pensionen absteigen will. Und mein absoluter Geheimtipp, wenn man mal ein schönes Wochenende in Meißen verbringen will. Die Weingüter sind nur einen Steinwurf entfernt, und wenn man nicht im Garten eines der an der Elbe gelegenen Restaurants in den Meißner Vororten zu Abend essen will, dann bietet sich z.B. das Dreißig’s Weinbistro in der Meißner Altstadt an. Dass man so wenig von diesem Hotel-Schatz hört, liegt auch daran, dass die Betreiber viel zu bescheiden sind, laut in die Welt hinauszuschreien, was für einen wunderbaren Ort sie hier geschaffen haben.