Wenn es einem zu gut geht, muss man aufpassen, nicht zu nachlässig zu werden. Das waren so in etwa meine Gedanken, als ich so gegen 6:30 aufwache und feststelle, dass heute der Tag ist, vor dem es mir gegraut hat: ich bin gestern als herrlich gedankenloser Urlauber ins Bett gefallen und stelle jetzt fest, dass ich vergessen habe, den Fahrrad-Akku ans Ladegerät anzuschließen. Shit! Ich rechne kurz nach: meine Abfahrt kann ich bis ca. 10 Uhr hinauszögern und bis dahin so viel laden wie es eben geht. Nach einem herrlichen Frühstück draußen auf der Terrasse und einem schnellen Fototermin mit den Leuten vom Upstalsboom Hotelresidenz & SPA Kühlungsborn ist der Akku zur Abfahrt ca. 3/4 geladen. Im Eco-Plus-Modus müsste ich mit der Reichweite eigentlich hinkommen, denn heute liegen nochmal entspannte 76 Kilometer vor mir – es geht zum Gutshaus Parin im ruhigen Hinterland des turbulenten Ostsee-Badeortes Boltenhagen.
Ein Highlight meiner Strecke wartet schon wenige Kilometer hinter Kühlungsborn auf mich: die geheimnisvolle, sagenumwobene Halbinsel Wustrow kurz hinter dem Örtchen Rerik. Die Halbinsel, die bis heute abgeriegelt ist und nicht betreten werden darf, war zu Nazi-Zeiten eine Flak-Ausbildungsstätte mitsamt einer von Heinrich Tessenow entworfenen Wohnsiedlung. Die Russen haben sie nach Kriegsende „friedlich übernommen“ und zu DDR-Zeiten weiterhin militärisch genutzt. Erst 1993 haben sie sich von hier zurückgezogen. In den späten 90ern wurde dieses Fleckchen Erde dann an die Fundus-Gruppe verkauft. Man hatte große Pläne, wollte hier Tourismus ganz groß aufziehen, es gab nur ein Problem: die Zufahrt zum gesamten Areal hätte durch das kleine Dorf Rerik führen müssen. Die Baupläne wurden nicht genehmigt, Fundus hatte sich verzockt. Wenn schon kein Tourismus, dann soll hier auch sonst niemand rein – die Halbinsel ist seitdem dauerhaft abgeriegelt und wird rund um die Uhr von einem Wachdienst abgeschirmt. Mich faszinieren solche Lost Places. Ich stehe am Tor und kann die verfallene Wohnsiedlung in der Ferne sehen. Mittlerweile hat sich die Natur schon einen Teil davon zurückerobert – vieles der ehemaligen Zivilisation ist hier schon von wildem Grün überwuchert. Plötzlich nähert sich ein schwarzer Volvo-SUV mit zwei Herren dem Tor, stoppt kurz, dann erscheint ein Wachmann und öffnet das Tor. Der Volvo wird durchgelassen und verschwindet im Nichts dieses Niemandslandes. Ich schaue noch lange hinterher, sehe mir die Halbinsel auf den Satellitenbildern bei Google Maps an, die natürlich auch nicht viel mehr zeigen als die Reste einer ehemaligen militärischen Siedlung. Was passiert hier? Sehr, sehr spannend.
Nach einem kurzen Cappuccino-Stopp auf der Terrasse eines Italieners am Hafen Rerik geht es weiter. Ich mache einen kurzen Umweg über die kleine Halbinsel Boiensdorfer Werder. Der ausgeschilderte Imbiss auf einem Mini-Campingplatz informiert mich auf einer Bockwurst-Pappe, dass ausgerechnet heute leider keine Bockwurst verkauft wird. Eine Unmenge an Bremsen macht mir deutlich, dass ich lieber weiterfahren sollte. Auf dem Rückweg finde ich noch ein kleines, schickes, architektonisch ambitioniertes Ferienhaus, das ich hier so nicht erwartet hätte. Ob man es mieten könnte, erklärt sich leider nicht. Vermutlich will der Architekt so ein schickes Häuschen nur ungern mit dem gemeinen Ostseeurlauber teilen, denke ich. Und nicke verständnisvoll.
Die Insel Poel, die durch eine Brücke mit dem Festland verbunden ist, lasse ich heute rechts liegen. Sie ist zwar für eine Insel recht klein, ist auch durchaus sehenswert, würde mich aber vermutlich zu viel Zeit kosten, die mir fehlt, wenn ich mir für das nächste Highlight auf der Strecke ein paar Minuten mehr gönnen will:
Wismar! Hier liegt sozusagen die Hälfte meiner Wurzeln: mein verstorbener Vater wurde hier geboren. Ich war wohl als kleines Kind mal mit ihm hier, ein Schwarzweißfoto zeigt mich an seiner Hand an der Kaimauer des Wismarer Hafens spazieren. Ich kenne Wismar nicht wirklich, es ist für mich aber dennoch irgendwie ein Sehnsuchtsort. Ich schlendere ein bisschen durch die schöne Altstadt, vorbei an der St.-Nikolai-Kirche, und lande direkt vor dem Café Glücklich. „Kuchen statt Kirche!“ postuliert meine innere Stimme, ich gebe widerstandslos und augenblicklich nach. Es ist mal wieder so ein ganz besonderes Fundstück, dieses Café. Im Inneren gibt es allerlei hübsche Dinge zu bestaunen – es ist alles so wunderbar liebevoll gemacht. Wieder so ein Ort, an dem jemand beschlossen hat, mit vollem Herzblut nichts als der persönlichen Leidenschaft nachzugehen. Tu was dir wirklich Spaß macht, und tu es mit 150%. Das Café Glücklich macht mich glücklich allein mit dem Anblick der zahllosen selbstgebackenen Torten, Kuchen, Croissants und was weiß ich noch alles. Eigentlich habe ich aber Mittagshunger und bestelle eine Alibi-Quiche samt hausgemachter Himbeerlimonade, nur um danach möglichst schnell zum süßen Teil des Glücks überzugehen. Die Bedienung scheint einem französischen Film entsprungen zu sein und überwältigt einen mit ihrer ansteckenden Lebensfreude. Satt und glücklich (und ein bisschen ungläubig, ob dieses Café vielleicht nur ein Traum war) mache ich mich auf den Weg. Ein paar Kilometer und noch viele Kilokalorien mehr wollen heute noch verradelt werden.
Eine gute Stunde radele ich ein Stück an der Küste entlang, dann vorbei an sommerlich durftenden Wiesen und goldgelben Getreidefeldern, über von alten Bäumen gesäumte Alleen und durch urige Wälder, bis ich an meinem Tagesziel ankomme: dem Gutshaus Parin, das nach einer behutsamen und nachhaltigen Sanierung zum Bio- und Gesundheitshotel in altem neuem Glanz erstrahlt. Es liegt am Ende eines kleinen Dorfes wie eine Oase in der sommerlichen Nachmittagshitze. Spätestens als ich den romantischen Schwimmteich im paradiesischen Garten sehe, bin ich hin und weg. Das Hotel könnte so auch irgendwo in Südfrankreich stehen. Meine Freude über dieses unglaublich schöne Haus kann ich allerdings niemandem mitteilen: hier gibt’s keinen Handy-Empfang, und die Hotelzimmer sind konsequent abgeschirmt. Ich nehme das mal als verordnete Digital-Entgiftung an und ignoriere, dass ich theoretisch das WLAN unten im Restaurant oder auf der Terrasse nutzen könnte. Stattdessen genieße ich die Zeit am Pool, der eben eigentlich ein Naturbadeteich ist. Das Wasser ist nicht hellblau, sondern türkis. Und ich bin in Gedanken irgendwo im Süden. Geweckt werde ich von meiner inneren Uhr, die mich mit lautem Magenknurren zum Abendessen treibt. Hier gibt es ausschließlich gesunde, vegetarische Küche. Gut, dass ich keine andere Wahl habe, denn so lasse ich mich darauf ein und werde sehr positiv überrascht. Ich unternehme noch einen Spaziergang durch die Abenddämmerung des Dorfs und schlafe herrlich entspannt ein.
Das Hotel rundet seine Spende auf 100 Euro auf, damit bin ich heute bei 176 Euro und habe insgesamt schon 1.572 Euro in der Tasche! Gute Nacht, du wunderbares Mecklenburg! Wer braucht schon den Süden, wenn man solche Sehnsuchtsorte hat.