Für die heutige Rekord-Etappe brauche ich eine gute Grundlage – und die gibt’s in der Appleslounge von Christiane beim Frühstück. Das steht dem Abendessen in nichts nach: liebevoll angerichtet gibt’s hausgemachte Marmeladen, Obst, Käse, Wurst, Ei und eine French Press-Kanne auf dem Tisch. Ich will mal wieder gar nicht abfahren. Es ist so herrlich hier. Beim Einschlafen und auch jetzt noch beim Frühstücken überlege ich, eventuell einen Teil der heutigen Strecke mit der Bahn zu fahren, weil ich an der Reichweite meines Akkus zweifle. Beim Losfahren beschließe ich aber, erstmal zu schauen, wie ich so vorwärts komme. Vielleicht komme ich ja doch durch. Mit einer heldenhaften Spende von 100 Euro (danke, Bernd!) und dem festen Entschluss, bald mal wieder hierher zurückzukommen, geht es in Richtung Lüneburger Heide mit dem Tagesziel Gästeresidenz PelikanViertel in Hannover. Noch im kleinen Örtchen Dahlenburg werde ich mitsamt dem restlichen Durchgangsverkehr (1 Auto) jäh gestoppt, als sich eine Entenfamilie mit älteren Rechten die Vorfahrt erkämpft und betont langsam die Straße überquert. Ich merke mal wieder: auf meiner Tour habe ich mehr Tierbegegnungen als bei jahrelangen Kinder-Zoobesuchen.
Am Ortsausgang komme ich an einem Mehrfamilienhaus vorbei, das offensichtlich vor kurzem einem Brand zum Opfer gefallen ist. Weiß-rotes Absperrband flattert ums Grundstück. Es ist nicht das erste ausgebrannte Haus auf meiner Tour. Im Alltag zuhause begegnet einem nicht so oft ein solcher Anblick, aber wenn man einmal durchs Land fährt, merkt man, dass es doch so ab und an mal hier und da brennt. Ich google kurz nach der Geschichte und finde tatsächlich einen Artikel. 20 Menschen haben hier gelebt. Neben einem Verdacht auf Rauchgasvergiftung gab’s zum Glück keine Verletzte. Brandstiftung als Ursache steht im Raum. Es ist ein schauriger Anblick, und hinter jeder Brandruine steckt ein dramatisches Feuerereignis. Ich erinnere mich an die Geschichte aus meiner Kindheit, als in unserer Nachbarschaft die Frau eines Arztes die Familien-Villa in Dresden aus Eifersucht nachts mit viel Benzin in Brand steckte – es gab Tote und Verletzte. Oft sind wir als Kinder an dem Grundstück vorbeigefahren und haben die Ruine bestaunt, die noch sehr viele Jahre unverändert auf dem herrlichen Grundstück direkt am Waldpark stand. Die Brandruinen auf meiner Tour habe ich nicht genau gezählt, es werden aber insgesamt so um die fünf gewesen sein – mehr als man denkt.
Nach einigen Kilometern über Land führt mich meine Route bei Bad Bevensen an den Elbe-Seitenkanal. Eine sehr meditative Strecke beginnt. Immer geradeaus über flaches Land direkt am Kanal entlang. Ab und an mal ein kleiner Frachter, mal ein Spaziergänger. Das Faszinierendste auf der Strecke sind die Brücken, an denen der Kanal über andere Flüsse führt. Wenn Wasser über Wasser hinweg führt, hat das immer einen sehr skurrilen Anblick. Kurz vor Uelzen bin ich zum ersten Mal genervt von meiner Komoot-Navigations-App. Sie meint, ich solle jetzt links abbiegen, um dann auf die Brücke zu gelangen, die über den Kanal führt. Das Problem: die Brücke verläuft irgendwo 10 Meter über mir, und es gibt keinen Weg, der links hoch zur Brücke führt. Die Uferböschung hat ca. 45 Grad. Ich schiebe mein schwer bepacktes Rad durch eine Regenrinne die Böschung hinauf, kritisch beäugt von Bauarbeitern, die unten am Kanal zu tun haben, und unter ständiger Angst, mitsamt der ganzen Chose rückwärts den Berg runter in den Kanal zu purzeln. Irgendwie schaffe ich es doch und muss oben nur noch meinen Elektroesel über die Leitplanke hieven, dann geht es weiter.
Hinter Uelzen zeigt sich die Lüneburger Heide vor allem als nicht enden wollender Wald. Es gibt Radwege neben der wenig befahrenen Landstraße, das macht die Sache sehr angenehm. Irgendwann soll ich rechts abbiegen, mich guckt aber ein großes Sperr-Schild an. Irgendwo in der Tiefe dieses Waldes sind wohl Straßenbauarbeiten im Gange. Ich hoffe, mit meinem Rad da dran vorbeizukommen und ignoriere die Schilder. Es geht über einen frisch geteerten Radweg neben einer gesperrten Straße. Der Wald gehört mir, quasi. Kilometerweit sehe ich keine Menschenseele, höre kein Auto. Irgendwann passiere ich tatsächlich die Restbaustelle und habe Glück, muss nicht wenden und um die 20 km Umweg fahren. Ich bin heute wieder den ganzen Tag im Eco-Plus-Modus unterwegs, der die kleinste Stufe elektrischer Unterstützung bietet. Nur so habe ich überhaupt eine Chance, die Strecke bis Hannover zu schaffen. Jede Art der Umleitung würde meine Hoffnung, ohne stundenlanges Nachladen anzukommen, jäh zerstören. Am Rande einer kleinen Schonung mache ich Pause und verputze den ersten Energie-Riegel aus meiner neuen Reiseverpflegung, die mir meine Frau in SPO eingepackt hat. Es gibt Apple-Crumble-Geschmack. Neben den Notfall-Riegeln für die Strecke wurde mir auch noch ein weißes Pulver eingepackt, das Extra-Power geben soll. Es wird allerdings nicht durch die Nase konsumiert, sondern jeden Morgen in einem Glas Wasser aufgelöst. Es schmeckt furchtbar, soll aber wohl allerlei Speicher wieder auffüllen, die ich hier durch mein tägliches Geradel leergestrampelt habe. Eine richtige Wirkung kann ich nicht feststellen, nachteilig wirken sie aber auch nicht. Und da jede morgens vernichtete Pulvertüte mein Gepäck etwas leichter macht, schlucke ich die Ration brav.
Außer Wald, Wald, Wald und Wald kommt lange nichts, bis irgendwann irgendwo bei Schelploh ein Wegweiser mit der Beschriftung „IG Farben-Wiese – Magischer Ort“ in den Wald weist. Ich folge ihm auf der Suche nach Spannung und Abenteuer. Mitten auf einer Lichtung stehen aufgetürmt farbig lackierte Chemiefässer als Mahnmal im Wald. Hier produzierte ein Bayer-Zweigwerk schon 1888 ein Schlafmittel. Man hatte sich diesen abgelegenen Standort gesucht, da die für die Produktion nötigen schwefelhaltigen Chemikalien so übel rochen, dass Bayer damit in dichter besiedelten Standorten regelrecht von den Anwohnern verjagt wurde. Mitten im Wald wäre es besser, dachte man sich. Das war allerdings auch nicht von Dauer, denn bei ungünstiger Windrichtung roch man die Chemiebude kilometerweit. Irgendwann fiel die Fabrik einem Brand zum Opfer, danach war Schluss mit dem Gestank.
Wenige Kilometer später komme ich nach Eschede und denke: Eschede, da war doch mal was. Tatsächlich, es ist dieser Ort, an dem sich Deutschlands schwerstes Bahnunglück ereignet hat: Am 3. Juni 1998 entgleiste hier ein ICE infolge eines Radreifen-Bruchs, zerstörte eine Straßenbrücke, die daraufhin auf den entgleisten Zug stürzte. Von den 287 Reisenden verstarben 101, 88 wurden verletzt. Es muss ein sehr apokalyptischer Anblick gewesen sein. Ich bin etwas erschrocken, dass ich zufällig hier vorbeikomme und steuere die Gedenkstätte an, die sich am Ortsrand befindet. Es ist heute der 12. Juni 2018, das bedeutet, der 20. Jahrestag des Unglücks liegt nur wenige Tage zurück. Die Gedenkstätte besteht aus 101 Bäumen und einer Gedenktafel mit den Namen aller Verstorbenen. Eine lange Treppe führt oben von der Brücke hinunter zur Gedenkstätte direkt neben der ICE-Strecke. Ich stehe hier und lese die Namen, während ein ICE sehr langsam an der Stelle vorbeifährt. Mich bewegt dieser Anblick, dieser Moment, dieser Ort sehr stark. Das Unglück ist lange her, aber wenn man hier an diesem Ort steht und die Geschichte dazu liest, dann fühlt man sich mittendrin und kann erahnen, wie schlimm all dies auch für die Anwohner und Rettungskräfte gewesen sein muss, von den Opfern und deren Angehörigen ganz zu schweigen.
Ich bleibe eine ganze Weile hier und denke auch beim Weiterradeln noch sehr lange an diesen Ort und an die Begegnungen dieses Tages. Der Rest der Strecke über Celle in Richtung Hannover ist dann vor allem geprägt von dichter werdendem Verkehr und leerer werdendem Akku. Ich komme mit sage und schreibe 0 Kilometern Restreichweite in der Gästeresidenz an. Hier, wo früher Füller produziert wurden, ist heute ein Boardinghouse untergebracht, in dem einem überall Sherlock Holmes begegnet. Hier kann man für länger, aber auch nur für ein Wochenende unterschlüpfen. Ich bin ziemlich fertig, aber sehr glücklich, dass ich es doch geschafft habe. 125 Kilometer liegen hinter mir, eine Massage vor mir: das liebe Team der Gästeresidenz hat mir einen mobilen Masseur bestellt, der meine Waden und meinen Rücken lockern soll. In meinem schicken Loftzimmer stellt er seine Liege auf, zur Massage gibt’s eine interessante Unterhaltung dazu. Danach bin ich in der Lobby verabredet – die Damen des Hotels laden mich noch zu asiatischem Essen ein, geliefert vom besten Lieferservice der Stadt. Nach einem lustigen Abend falle ich ins Bett auf der Empore meines Zimmers. Die Gästeresidenz rundet nicht nur ihre eigene Spende auf, indem sie meine heutigen Kilometer in britischen Pfund vergoldet, was am Ende 150 Euro sind. Sie organisiert obendrauf sogar noch weitere 100 Euro vom Schwesterhotel Holiday Inn Hamburg-City-Nord. 2.904 Euro Spendengeld habe ich bis jetzt „erfahren“. Wenn die Frage nach dem Sinn auch immer mal kommt: spätestens beim Addieren der Spenden weiß ich, was bleibt.