Ich starte heute in unbekannte Gefilde. Die vor mir liegende Gegend zwischen Hannover und Münster habe ich vorher noch nie betreten. Namen wie Porta Westfalica, Minden und natürlich Bielefeld kenne ich aus dem Verkehrsfunk, verbinde dazu aber einfach überhaupt nix. Wozu in die Ferne schweifen, wenn du dein eigenes Land noch nicht mal kennst. Auf geht’s, du unentdecktes Westfalen! Mein Ziel für heute heißt Weinhaus Möhle und befindet sich in 86 Kilometern Entfernung in Bad Oeynhausen.
Nach schier unendlichen Kilometern schaffe ich es, Hannovers Stadtgebiet hinter mir zu lassen. Erdbeerfelder liegen rechts und links des Weges, schon einen Kilometer vorher von meiner mittlerweile darauf trainierten Nase geortet. Ich kann Erdbeerfelder jetzt aus der Ferne riechen! So langsam sind aber auch die Kirschen reif, wie ich bei einer Pinkelpause am bezaubernden Rittergut Remeringhausen feststelle. Ich esse mich fest, die Kirschen in Griffweite sind so lecker knackig und süß, dass es kein Halten gibt.
Die Hitzewelle, die mich schon die ganze Tour begleitet, macht den Juni zum Hochsommer und die Getreidefelder goldgelb. Ich fahre entlang des Bückebergs, einer immerhin 375m hohen Erhebung hier bei Schaumburg, und finde ein Postkartenmotiv am Straßenrand: ein wunderschönes altes Gehöft, vor dem ein perfekt restaurierter Citroën 2CV a.k.a. Ente parkt. Gleichzeitig sehe ich mehr und mehr Giebel, die mich argwöhnisch beäugen. Ich vermute Verfolgungswahn meinerseits, ausgelöst durch exzessiven Kirschmissbrauch. Es handelt sich aber um die sogenannten Schaumburger Rundgiebel, auch “Schaumburger Mütze” genannt. Auf den Giebelseiten der Häuser ist so eine Art halbrund gewölbte „Stirn“ montiert, darunter sehr oft zwei Fenster, die irgendwie wie Augen aussehen. Ich finde keine zufriedenstellende Antwort nach dem „Warum“, markiere aber die Seite „Things with Faces“, damit die Gesichtsgiebel wenigstens noch jemanden außer mir amüsieren.
Bei Bückeburg vertilge ich noch mein obligatorisches Kuchenstück samt Cappuccino und überquere alsdann die Landesgrenze – ich bin jetzt in Nordrhein-Westfalen! Nun liegt sie vor mir, die kleine Stadt Porta Westfalica mit der namensgebenden westfälischen Pforte. Erst jetzt verstehe ich, dass es hier wirklich so ’ne Art Pforte gibt: die Weser hat hier den Durchbruch durch das Wiehen- und Wesergebirge geschafft. Rechts und links des Flusses türmen sich Gipfel mit 200-300 Metern Höhe auf. Ich wage jetzt auch den Durchbruch und mache mich auf den Endspurt zu meinem Etappenziel. Ich habe die Höhenmeter der Etappe unterschätzt, es geht relativ oft bergauf, bergab. So wird mir auf den letzten Metern der Akku ebenfalls wieder knapp. Ich erreiche mit einer Restreichweite knapp über Null das neu errichtete Hotel, das sich an einen alten Gasthof anschließt. Irgendwie ist hier meine Buchung abhanden gekommen, die sehr freundliche Dame am Empfang löst das Thema aber sehr pragmatisch, gibt mir erstmal ein Zimmer, alles weitere kläre man später. Man sieht mal wieder: es sind in großem Maße die Menschen hinter dem Tresen, die darüber bestimmen, wie man ein Hotel in Erinnerung behält. Hier schläft mein Rad direkt im Zimmer, ebenerdiger Terrassentür sei dank.
Ich stelle fest, dass ich wohl noch einen Anlauf brauche, um mit der Gegend warm zu werden. Irgendwie bin ich hier so durchgerauscht und es bleibt nicht so recht was hängen. Weder starke negative, noch starke positive Ausschläge. Vielleicht sollte ich der Region irgendwann mal mehr als 24 Stunden widmen. Heute versuche ich es jedenfalls nicht mehr und ziehe das sehr gute Bett vor.