Bei meinen Planungen und Vorbereitungen der Tour spielte Nahrungsknappheit und das Überwinden selbiger keine ernsthafte Rolle. Im Gegenteil: die allmittägliche Auswahl eines Gasthofs entlang der Strecke sollte eines der Highlights des einsamen Radler-Lebens sein. So der Plan. Dass die so oft zitierte Landflucht ganz augenscheinlich vor allem von Gastronomen initiiert oder zumindest angeführt worden sein muss, werde ich heute mit knurrendem Magen erfahren. Doch der Reihe nach:
Der Morgen im Fährhaus Meißen beginnt so wie erträumt: etwas spät, aber ausgeschlafen trudele ich im „Wohnzimmer“ des Hotels ein. Da, wo man sich abends noch einen Wein aus der Region einschenken und auf Vertrauensbasis selbst anschreiben kann, offenbart sich morgens das alltäglich neu geschaffene Kunstwerk der Hoteliére – das fantastische Frühstücksbüfett. Mit Worten ist das nur schwer zu beschreiben, wie liebevoll hier allerlei Köstlichkeiten zubereitet werden. Und natürlich gibt es auf Wunsch alle Eierspeisen des Planeten. Allein für dieses Frühstück lohnt sich die Anreise. Ich genieße mein Frühstück selbstverständlich im grünen Innenhof. Die Sonne scheint schon heftig an diesem Morgen und schafft es auch auf meinen Tisch. Schnell eilt Frau Paulsen mit einem Sonnenschirm herbei. Das ist wirklich gelebte Gastfreundschaft, wie man sie nur selten findet.
Ich halte mich nicht allzu lang beim Frühstück auf, denn ich muss noch ein Ritual proben, das ich in den nächsten 31 Tagen jeden Morgen absolvieren muss: meinen ganzen Kram effektiv und zügig wieder in meine Packtaschen verstauen und das Zimmer räumen. Nach dem Check-Out und dem Satteln des E-Esels verabschiede ich mich von den Paulsens und schwinge mich auf mein Rad. Das Ziel für heute heißt Senftenberger See – das sind so um die 70 Kilometer.
Gleich am Anfang meiner Route mache ich noch einen Schlenker zum Schloss Proschwitz, nur wenige Kilometer vom Hotel entfernt. Es geht einen ziemlich steilen Waldweg hinauf, dann liegt es auch schon vor mir, das herrliche Anwesen des Prinz zur Lippe, der mit seinem Weingut ziemlich guten Wein produziert. Für eine Weinverkostung ist es definitiv noch zu früh, außerdem weiß ich noch nicht so recht, wie lange ich eigentlich unterwegs sein werde. Also lieber morgens nicht so viel Zeit verlieren. Nach ein paar Fotos steige ich wieder aufs Rad und genieße die erste kleine abschüssige Strecke an Feldern vorbei. Nach einigen Minuten genüsslicher Talfahrt frage ich mich, wo ich meine Sonnenbrille habe. Eben noch auf der Nase, jetzt definitiv nicht mehr. Ich hatte sie am Schloss abgesetzt und auf die Packtasche gelegt. Dort sehe ich sie nicht mehr. Argh! Umdrehen und bergauf zum Schloss zurück. Kurz bevor ich hier wieder ankomme, fliegt irgendwas auf die Straße. Es ist die Brille, die sich irgendwo am Rad verhakt bzw. versteckt hatte und nun den unglaublichen Kräften der Beschleunigung, den Zentrifugalkräften, dem Gegenwind oder – wesentlich wahrscheinlicher – einfach nur der Erdanziehung nachgibt. Die gute Nachricht: sie ist noch heil. Okay, erste Lektion gelernt: bei Abfahrt immer nochmal kurz checken, ob ich alles beisammen habe.
Jetzt aber geht’s durch sächsische Dörfer, über Wiesen und Felder und herrliche Wälder in Richtung Tagesziel. Ich fühle mich in diesem Moment unglaublich frei. Oh, du schöne Welt, ich komme!
Schon an diesem zweiten Tag meiner Tour bin ich begeistert von meiner Fahrrad-Navigation: die App „komoot“ auf meinem Smartphone findet wirklich wunderbare Strecken abseits der Bundesstraßen. Oftmals sind es ausgebaute Radwege (erstaunlich, wieviele es davon in Deutschland gibt!), manchmal auch nur Feldwege, und nur ganz selten sind es sandige Pisten, bei denen ich denke „Schatz, ist das dein Ernst?“. Noch im Hotel sagte ich Herrn Paulsen, die heutige Strecke würde „einfach nur durch irgendwelche Dörfer gehen, ohne große Highlights“. Er erwiderte mir, dass es doch oftmals diese ganz normalen Dinge sind, die ihre Schönheit erst zeigen, wenn man mal genauer hinschaut. Mit Fahrrad-Tempo geht das wunderbar, und so muss ich an dem Tag noch oft an seine Worte denken, während ich durch alte Dörfer mit ihren Gehöften oder über weite Felder, auf denen sich das Getreide grün-gelb im Wind wiegt, fahre.
Irgendwann gegen späten Vormittag lasse ich gedankenlos einen Bäcker in einem kleinen Dorf – ach was, es waren höchstens zwei, drei Gehöfte – links liegen. Der Nächste wird auch noch in Ordnung sein. Bis mir irgendwann auffällt, dass es scheinbar keinen Nächsten gibt. Genauso wie es hier offensichtlich überhaupt nichts gibt, was irgendwie nach Verpflegung aussieht. Kein Bäcker, kein Laden, kein Gasthof, kein Biergarten, kein Imbiss. Noch nicht mal ein Getränkehandel. Mein von Hunger und Durst leicht vernebelter Verstand kombiniert: entweder grassierte hier mal eine Krankheit, die vor allem Gastronomen und Einzelhändler dahingerafft hat. Oder es ist die viel zitierte Landflucht, die ebendiese zuerst ergriffen. Während ich durch Wälder radele und in Gedanken die zweite Lektion des Tages („wenn du in der Provinz an Nahrung und Getränken vorbeifährst, dann halte verdammt nochmal an – Oasen gibt es nicht so oft!“) verinnerliche, sehe ich plötzlich eine Fata Morgana in Form der Teichwirtschaft Schönfeld. Ungläubig und glücklich betrete ich die Rettung in gefühlt letzter Minute, bestelle geräucherten Fisch und ein Radler. Niemand hier ahnt, wie glücklich sie mich damit machen. Das Auffüllen der Trinkflasche vor der Weiterfahrt droht knapp daran zu scheitern, dass es hier kein wirkliches Trinkwasser gibt. Freundlicherweise geben mir die Frauen von der Fischtheke aber etwas vom extra fürs Kochen mitgebrachten Trinkwasser ab. Vielen Dank! Weiter geht’s gut gelaunt und gut gestärkt durch Dörfer mit lustigen Ortsnamen.
Irgendwann kreuze ich zum ersten Mal eine Autobahn. Ich bleibe auf der Brücke stehen und sehe den Lärm auf den Fahrspuren heute zum ersten Mal mit anderen Augen. Es kommt mir irgendwie irre vor, wie hier auf vier Spuren der Wahnsinn mit Höchstgeschwindigkeit und voller Lautstärke tobt. Im normalen Leben bin ich viel zu oft einer von denen, ohne dass mir das irgendwie merkwürdig vorkommt. Viel zu oft ist der Maßstab, wie schnell man von A nach B kommt, und nicht, was man auf dem Weg alles entdecken kann. Es ist gut, das Leben auch mal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ich bin heute froh, einfach ein paar Meter weiterradeln zu können und nichts als die Natur und das leise Surren meines Elektromotors zu hören.
Mit diesen hehren Gedanken im Kopf fahre ich positiv gestimmt durch die Landschaft. Das Rauschen der Autobahn habe ich hinter mir gelassen. Allein das Tuckern eines Traktors mischt sich von hinten langsam in die Ruhe der Natur. Der darf das, denke ich, schließlich arbeitet er bei der Hitze, während ich mich hier gerade nur den schönen Dingen widme. Ich fahre rechts ran und mache ihm Platz. Die zwei Bauernjungs auf dem Traktor ziehen einen großen Hänger hinter sich her. Hier ist die Welt noch in Ordnung, denke ich, während das Gespann an mir vorbeifährt. Bis ich die Fuhre von hinten sehe: die Ladefläche ist voll mit erschöpft und traurig blickenden Gastarbeitern, die wohl gerade aufs nächste Feld zur Ernte gekarrt werden. Sie hocken unter der Plane des Anhängers, die vermutlich gegen die mörderische Hitze mit ein paar Löchern versehen wurde. Die Welt ist alles andere als in Ordnung, denke ich, während der Trecker weiterzieht und irgendwann am Horizont auf ein Feld einbiegt. Die Gesichter und die Szenerie gehen mir sehr lange nicht mehr aus dem Kopf.
Ein paar Kilometer vorm Ziel entdecke ich noch ein verwunschenes Anwesen – das Schloss Hohenbocka wurde vor einigen Jahren saniert und als Hotel eröffnet. Leider nur für relativ kurze Zeit empfing es seine Gäste, heute sucht man einen Käufer, der das Haus weiterführt und auch den Behandlungs- und Wellnessbereich samt einer bestimmten Anzahl an Angestellten am Leben erhält – dies ist wohl eine der Voraussetzungen, unter denen damals Fördergelder gezahlt wurden. Ein wirklich schönes Haus, auch wenn es unter diesen Voraussetzungen sicher schwer ist, es rentabel zu betreiben. So schläft es seinen Dornröschenschlaf samt romantisch verwildertem Schlosspark in Ruhe weiter.
Nach einem kleinen Endspurt erreiche ich mein Etappenziel: das Hafencamp am Senftenberger See ist kein Hotel, sondern ein Campingplatz, der seit einiger Zeit aber auch schicke Ferienbungalows und fünf Baumhäuser vermietet. Für mich wird das heute die erste Baumhaus-Übernachtung. Den Baumhäusern fehlt es an nichts: die tonnenförmigen Holzhäuser haben alles, was man zu zweit für einen gemütlichen Kurzurlaub braucht. In luftiger Höhe gibt’s hier ein Doppelbett, eine kleine Miniküche samt Herd, Waschbecken und French Press-Kaffeemaschine, ein Bad mit Toilette, Waschbecken, Dusche (Warmwasser!), natürlich Strom und WLAN – und eine lauschige Terrasse mit Liegestühlen und Blick in Richtung See. Es ist wirklich traumhaft hier. Ich beschließe, auf jeden Fall nochmal hierher wiederzukommen. Entweder zu zweit oder mit der ganzen Familie (mit den Kindern im Nachbargipfel).
Mich erwartet heute noch eine kleine Kanu-Tour auf dem Senftenberger See. Schließlich glaube ich zu Beginn meiner Radtour noch, ich hätte Zeit und Kraft für einen Ausgleichssport. Nach einer kurzen Ruhepause in luftiger Höhe schwinge ich mich nochmal auf zum Bootsverleih unten am See. Ich sehe, dass ich spät dran bin, denn die Vermietung schließt in knapp einer Stunde. Vor mir in der Schlange stehen noch zwei Urlauber, die sich scheinbar gerade die Grundlagen der Bootsvermietung und die Vor- und Nachteile bestimmter Motorboot-Typen erklären lassen – weil sie in der nächsten Woche vielleicht eventuell möglicherweise ein Boot mieten wollen. Als sie sich endlich schlau genug fühlen und ich an der Reihe bin, kommt der Sohn der Vermieterin aufgeregt angerannt und erzählt, dass sich ein Tretboot gelöst hat und freudig-emanzipiert in Richtung Naturschutzgebiet aufbricht. Nachdem auch dieses Problem gelöst ist, bekomme ich mein Kanu – ich solle mal meine Tour machen, die Vermieterin wartet, bis ich wieder da bin. Ich bin ob soviel Kundenorientierung überrascht und begeistert und steche motiviert in See. Hier bin ich gleich wieder überrascht, aber mit weniger Begeisterung: am Himmel brauen sich dunkle Wolken zusammen, der Wind wird kräftig, der Wellengang ebenso. Ich kürze die Stunde etwas ab und komme mit trockenem Kopf, aber nassem Hintern wieder in den Hafen.
Letzte Amtshandlung für heute: Nahrungssuche. Der Ort Senftenberg und mit ihm zahlreiche Restaurants liegen auf der anderen Seite des Sees. Das hieße Fahrradfahren, und darauf habe ich heute keine Lust mehr – nach der ersten längeren Etappe bin ich k.o. und höchstens noch bereit, ein paar Schritte zu laufen. Im benachbarten weitläufigen Ferienpark findet sich ein Italiener, der hier aus einem ehemaligen Imbiss heraus köstliche Pizza anbietet. Ich verschiebe alle Gedanken an gesunde Ernährung, falle hungrig über die Pizza her und hinterher glücklich in mein Baumhaus-Bett. Die mit 73 Kilometern erste größere Etappe habe ich geschafft, 146,- Euro Spendensumme habe ich heute gesammelt, damit bin ich sehr zufrieden. Über allen Gipfeln ist Ruh’ – zumindest über meinen.