Wir haben Sonntag, den 17.06.2018. Ich habe heute noch eine sehr persönliche Etappe vor mir: es geht auf 78 Kilometern vorbei an den rechtsrheinischen Ausläufern von Köln (meine Heimat 1990-93) bis nach Andernach am Rhein kurz vor Koblenz. Doch erstmal geht es ans wunderbare Frühstücksbuffet im Malerwinkel Hotel. So liebevoll wie die Zimmer ist hier auch der kulinarische Start in den Tag. Man sitzt in einem Wintergarten mit Blick in den romantischen Innenhof. Herrlich, wenn man ohne Zeitdruck in den Tag hineinfrühstückt. Ich hingegen muss los. Nach dem Checkout angele ich mir noch ein Mini-Magnum-Eis aus der Kühltruhe. Die steht hier an der Hotelrezeption bereit, um Gäste bei hochsommerlichen Temperaturen zu erfrischen. Eine nette Geste – genauso wie die Süßigkeiten, die man sich hier in kleine Tüten abfüllen kann, um sie seinen Kindern mitzubringen. Der Checkout aus dem Hotel ist der perfekte Moment, um mit einer kleinen Geste auch nach der Abreise in den Köpfen der Gäste zu verbleiben. Es kostet fast nichts und ist doch unbezahlbar. Mit einem Eis im Mund fachsimpele ich vor dem Haus noch kurz mit einem ebenfalls fahrradbegeisterten Gast über die Vor- und Nachteile von dicken und dünnen Reifen.
Meine alte Heimat ist nur ca. 15 Kilometer entfernt. Die Strecke von Bensberg nach Köln, besser gesagt in den Stadtteil mit dem klangvoll-mondänen Namen „Köln Porz-Wahn“, führt entlang an ausgedehnten Waldgebieten, vorbei am Flughafen Köln-Bonn. Dann stehe ich vor dem Supermarkt, in dem ich als 16-Jähriger Regale bestückt habe und samstags Obst verkauft und leere Flaschen angenommen habe. Der Markt heißt heute nicht mehr COOP, sieht aber ansonsten noch genauso aus. Ich fahre unter der Autobahnbrücke hindurch und stehe jetzt vor dem Mehrfamilienhaus aus den 60ern, in dem ich drei Jahre gelebt habe. Hier habe ich meine Jugendliebe kennengelernt, hier habe ich aber auch eine Zeit verbracht, die nicht unbedingt zu den Glanzzeiten meines Lebens gehörte. Mit 15 bin ich hier wenige Wochen nach der Maueröffnung gemeinsam mit meiner Mutter in einer mir fremden Welt gelandet, die nicht unbedingt auf mich gewartet hat. Die Gegend, in der wir gelebt haben, wird von den „richtigen“ Kölnern auch gern die „schäl Sick“ genannt: die „schlechte Seite“ des Rheins. Die Schule war inmitten eines Neubau-Ghettos aus den 70ern gelegen, und so war auch das Klima in den Klassen. Am Anfang war ich hier eher der „Ossi“, der „Zoni“. Nur die Lehrer freuten sich an meiner exotischen Herkunft („Hurra, wir haben jetzt auch einen aus dem Osten!“). Ich konnte sie schnell begeistern, indem ich den Unterricht einfach nicht oder nur wenig boykottierte. Bei so einigen Mitschülern, die entweder nicht konnten oder nicht wollten oder beides, sorgte das – wen wundert’s – nur für mäßige Begeisterung. Es dauerte eine Weile, bis ich hier ein paar Leute kennengelernt hatte, die wirklich meine Freunde wurden. Noch heute staunen sowohl meine Mutter als auch ich, dass ich die Zeit überlebt habe: schließlich bin ich die 5 km zur Schule auch im Winter meist mit nassen Haaren auf dem Fahrrad gefahren. An der Schule angekommen, waren sie dann gefroren.
Ich verlasse meine Zeitreise-Station mit etwas Melancholie auf den Wegen, auf denen ich schon damals gern gefahren bin, als sich an lauen Sommerabenden dieser unverwechselbare Sommerduft für immer in meinem Kopf festgesetzt hat: über nicht enden wollende Wiesen und Felder geht es jetzt in Richtung Bonn. Kurz vor der Stadt setze ich mit der Siegfähre über die Sieg über (was für ein Satz!). Ich lerne, dass dies hier eine der ältesten noch in Betrieb befindlichen Einmann-Gierfähren ist. Das heißt, sie hat keinen Motor, hängt an einem Seil und wird nur durch die Kraft der Strömung bewegt. Die Sieg ist hier auch nur ein paar Meter breit, das Vergnügen dauert nur einen Augenblick. Kurz darauf erreiche ich Bonn am Ufer des Rheins – genauer: den rechtsrheinischen Stadtteil Bonn-Beuel. Bonn habe ich schon früher sehr gemocht. Im Prinzip eine relativ kleine, gemütliche Stadt mit herrlichen Altbauten, die – als ehemalige Bundeshauptstadt, bevor es Berlin wieder wurde – mit ihren zahllosen Botschaften aller Herren Länder aber dennoch irgendwie das Gefühl der weiten Welt in sich trug. Ich sehe die Altstadt heute nur am anderen Ufer des unglaublich breiten Rheins mit seinem schwimmenden China-Restaurant. Hier wie da liegen mondäne Villen älteren und neueren Baujahrs in großen Parks am Rheinufer. Auf meiner Strecke am Rhein entlang versuche ich, auf der anderen Seite den in diesen Tagen nach großem Budenschwung wieder neu eröffneten Kanzlerbungalow zu erspähen. Wie so oft auf dieser Tour ist die Zeit zu knapp, den Umweg zu nehmen und eine Besichtigung einzuplanen. Immerhin sehe ich das Haus aus der Ferne, in dem damals Helmut Kohl residierte und daran scheiterte, schwäbische Gemütlichkeit mit moderner Architektur zu kombinieren.
Einige Kilometer weiter, genauer: in Königswinter, geht’s nochmal auf die Fähre. Und mit mir auf der Fähre ein alter S-Klasse-Mercedes, der direkt aus der Helmut-Kohl-Zeit zu kommen scheint. Die deutsche Flagge als Standarte gehisst weist vermutlich auf das heute stattfindende WM-Spiel Deutschland-Mexiko hin. In meiner Vorstellung passiert hier aber gerade Helmut Kohl den Rhein.
Linksrheinisch geht es immer am Rhein entlang weiter gen Süden. In voller Fahrt merke ich nicht, dass ich soeben Nordrhein-Westfalen verlasse und nun Rheinland-Pfalz erreiche. Hier liegen zwei langgestreckte Inseln im Rhein: Nonnenwerth war früher Kloster und beherbergt nun ein Gymnasium. Auf der anderen Seite liegt Grafenwerth samt Schwimmbad mitten im Rhein, dahinter Bad Honnef am anderen Ufer. Ich genieße die Fahrt durchs Rheintal, immer neben dem wirklich gewaltigen Rhein entlang. In Remagen wartet noch kurz Geschichte am Wegesrand: die Brücke von Remagen, eine Eisenbahnbrücke, sollte wie alle Rheinbrücken am Ende des 2. Weltkriegs gesprengt werden, um den Alliierten den Vormarsch zu erschweren. Gesagt, getan, allerdings hob es diese Brücke hier nur kurz aus den Lagern, sie überstand den Sprengversuch. Die Deutschen flohen, die Alliierten überquerten erfolgreich den Rhein. Letztendlich gab die Brücke doch nach und stürzte ein. Hitler fackelte nicht lang und ließ aus Ärger ein paar Leute erschießen, die aus seiner Sicht das Malheur zu verantworten hatten. Heute stehen von der Brücke nur noch die Brückentürme auf beiden Seiten des Stromes. Linksrheinisch beherbergen sie heute ein Friedensmuseum (das mal eine neue Website bräuchte).
Ein paar Dutzend Kilometer weiter stromaufwärts erreiche ich mein Tagesziel Andernach – nicht ohne auch hier eine Attraktion zu verpassen: Deutschlands einziger Kaltwasser-Geysir befindet sich hier. Ja, richtig gehört: man muss, um einen Geysir zu sehen, nicht nach Island reisen! Kaltwasser-Geysir bedeutet: hier gibt’s eine Kohlensäure-Quelle im Erdreich, die ihr Wasser an die Oberfläche schleudert. Leider hat der Geysir heute schon geschlossen. Man kann ihn auch nicht einfach so besuchen, denn die Halbinsel, auf der er sich befindet, ist nur im Rahmen einer Führung per Schiff zu erreichen. Dann ist im Ticket aber auch schon der Besuch des Geysir-Museums in Andernach enthalten. Eine Ausstellung, die das Thema wirklich beeindruckend präsentiert. Das weiß ich, weil ich ein Jahr nach meiner Tour samt Familie nochmal hier war. Absolute Empfehlung!
Mein Hotel für den heutigen Abend, das Hotel am Ochsentor in Andernach, ist wieder einmal so ein Juwel, das ich so hier nicht erwartet hätte. Andernach hat zwar einen Geysir, ist aber ansonsten eher nicht auf Platz 1 der Sehnsuchtsorte des Deutschland-Tourismus. Selbst das Hotel beschreibt seine Lage als „irgendwo zwischen Köln und Frankfurt“ (wo man es auch eher vermuten würde). Noch gar nicht so lang eröffnet, liegt es in der Andernacher Altstadt und begrüßt mich schlicht, aber sehr stilvoll designt. Auf meinem großzügigen Zimmer wartet mal wieder eine Begrüßung: ein Obstkorb samt Müsliriegeln und ein sehr netter, persönlicher Brief. Nachdem ich mein obligatorisches Willkommensschläfchen hinter mir habe, belohne ich mich heute mit einer Pizza in der Trattoria unten im Hotel. Es ist die moderne Version einer Trattoria, das heißt: sehr gute italienische Küche, aber kein Italokitsch. Das wissen offenbar auch die Andernacher zu schätzen, die ringsum sämtliche Tische belegen. Deutschland gegen Mexiko gucke ich vom Bett aus – bis mir irgendwann die Augen zufallen.