Noch fünf Tagesetappen liegen vor mir. Mit mittlerweile ca. 2.400 km auf dem Tacho und sagenhaften 5.753,55 Euro in der Packtasche (bzw. den Zusagen – ich schleppe zum Glück kein Bargeld mit mir rum) geht’s heute in Richtung Kassel, genauer: nach Baunatal! Übersichtliche 63 Kilometer werde ich heute auf dem Rad unterwegs sein, das ist mir angesichts der jetzt täglich auftretenden Knieschmerzen auch sehr recht. Das Höhenprofil sieht okay aus, es geht am Anfang bergauf, danach aber tendenziell bergab. Das Wetter ist heute durchwachsen, das heißt: trocken, bewölkter Himmel, kaum Sonne, viel Wind. Und Wind kommt auf dem Fahrrad ja irgendwie immer von vorn, egal, in welche Richtung man fährt. In meinem Tourfrust erinnere ich mich an meinen Witz von der Insel Rügen: „Kommen sich zwei Fahrradfahrer entgegen …“
Mit etwas Distanz betrachtet, ist die heutige Strecke eigentlich eine sehr schöne: es geht durch kleine Dörfer, über Nebenstraßen und Radwege, vorbei am Nationalpark Kellerwald-Edersee, durch den schnuckeligen Kurort Bad Wildungen (immerhin eines der bedeutendsten Heilbäder, wie ich lese!).
Wenig später an der Eder, kurz hinter dem Örtchen „Ungedanken“ (gute Platzierung auf meiner Hitliste der bemerkenswertesten Ortsnamen), stoppe ich an einem Lost Place am Wegesrand: ein eisernes Monstrum bestehend aus einigen siloartigen Türmen, diente hier offensichtlich in längst vergangenen Tagen der Kiesverladung auf Bahnwaggons. Während ich hier unter dem alten Eisenschwein pausiere, fällt mir auf, dass neben mir über dem Feld ein Flugzeug immer wieder in den Sinkflug geht, im Tiefflug über das Feld fliegt und dann wieder in die Höhe steigt. Es wendet, und alles beginnt von vorn. Mir geht sofort die Szene aus Alfred Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ durch den Kopf, in der Cary Grant an einer Haltestelle mitten auf freiem Feld plötzlich immer wieder von einem Sprühflugzeug angegriffen wird. Nur durch eine beherzte Flucht ins Feld entrinnt er knapp dem Tod. Ich fühle mich unter den Silos ziemlich unangreifbar und google stattdessen, was sich hier verbirgt. Die Antwort enttäuscht mich etwas: es ist einfach nur der Heeresflugplatz Fritzlar, auf dem hier gerade wohl Landeanflüge trainiert werden. Fritzlar als solches ist weniger furchteinflößend, sondern stimmt mich mit seinem Fachwerk-Marktplatz-Charme ausgesprochen friedlich.
Irgendwann zwischen Fritzlar und meinem Tagesziel Baunatal klärt mich ein Schild auf, die Mitte Deutschlands sei jetzt exakt 2,1 Kilometer von mir entfernt. Okay, da will man es wohl genau wissen. Mir reicht das Wissen, dass ich heute also ziemlich genau mitten in Deutschland übernachten werde. Mit nur sehr wenig mentaler Restreichweite bei grauem Himmel komme ich im GenoHotel Baunatal an. Das moderne Tagungshotel besteht aus einem lichtdurchfluteten Gebäudetrakt mit Rezeption, Restaurant, Bar und Tagungsräumen sowie drei separaten zweigeschossigen „Wohnhäusern“, in denen die Hotelzimmer untergebracht sind. Jedes Zimmer mit Terrasse oder Balkon und grüner Wiese davor. Praktischerweise bin ich im Erdgeschoss untergebracht und kann mein Fahrrad direkt vor dem Fenster abstellen. Das tue ich auch und decke mich zu Fuß in dem sehr guten Supermarkt um die Ecke mit einem italienischen Buffet ein. Käse, Oliven, Schinken, Ciabatta, Rotwein, das ganze Programm. Ich finde es heute Abend gut, dass die Hotelzimmer hier etwas von den öffentlichen Bereichen separiert sind, in denen Tagungsgäste bis spät abends die Arbeit ziemlich intensiv hinter sich lassen. Mir ist Ruhe heute lieber. So langsam bekomme ich eine merkwürdige Nervosität. Auf der einen Seite freue ich mich, in wenigen Tagen wieder zuhause zu sein und nicht mehr jeden Tag im Sattel sitzen zu müssen. Auf der anderen Seite ist diese einmalige Zeit dann auch bald vorbei, und ich frage mich, ob ich damit überhaupt irgendetwas Positives bewegen kann. Werden die Spenden überhaupt irgendwem nützen? Werde ich nach meiner Auszeit irgendeine Veränderung für mich spüren? Und ganz existenziell: bleibt das Wetter so deprimierend, und hält mein Knie durch? In wenigen Tagen werde ich es wissen.