Während meines Frühstücks neben allerlei Tagungsteilnehmern im Arbeitsmodus plane ich die heutige Strecke. Wetter, Knie und Laune haben mich noch immer im Griff. Ich beschließe, heute eine Steigung, nämlich die aus Kassel heraus, nicht mit dem Rad, sondern – Premiere! – mit der Straßenbahn zu nehmen. Hier gibt es eine Bahn, die bis über die Grenzen der Stadt hinaus nach Hessisch Lichtenau fährt. Von dort sind es dann nochmal ca. 70 Kilometer bis zu meinem Tagesziel Mühlhausen in Thüringen.
Bevor ich mich in die Bahn setze, setze ich mich aber im Hotel nochmal mit Markus Maier, dem sehr sympathischen, gut gelaunten Hoteldirektor des GenoHotel Baunatal, zusammen. Ich erzähle ihm von meiner Idee und von der bisherigen Tour, er überrascht mich mit der Zusage, sehr großzügig auf satte 250 Euro Spendensumme aufzurunden. Wenn der Tag so losgeht, kann er ja nur gut werden! An dieser Stelle nochmal 250 mal danke!
Mit Sack und Pack radele ich in Richtung meiner Straßenbahnstation „Drusetal“. Von hier wäre es nur noch ein Katzensprung bis zu einem der Kasseler Highlights: dem Bergpark Wilhelmshöhe. 560 Hektar einzigartige Kulturlandschaft und barocke Gartenbaukunst, ausgezeichnet als Unesco-Weltkulturerbe. Wäre, wäre, Fahrradkette. Kommt auf die Bucketlist für „wenn ich mal mit mehr Zeit unterwegs bin“. Stattdessen sitze ich in der Straßenbahn, rattere durch Kassel und versuche mich selbst davon zu überzeugen, dass ich der Einzige bin, der jetzt gerade glaubt, man könne doch auf einer Spenden-Radtour nicht mit der Straßenbahn schummeln. Dabei könnte ich im Prinzip die ganze Zeit nur noch Zug fahren und in Wellness-Oasen herumlümmeln, denn mein Spendenziel von 5.000 Euro habe ich längst rein. Ich stehe mir mit irgendwelchen merkwürdigen Glaubenssätzen selbst im Weg.
„Endgrübelstelle Hessisch Lichtenau“ glaube ich aus dem Lautsprecher zu hören. Mitteldeutscher Nieselregen empfängt mich nach dem Aussteigen. „Das kann ja heiter werden“ hoffe ich, hier oberhalb des Kassel-Kessels. Immerhin, gen Osten geht’s bergab, zumindest die ersten gut 40 Kilometer, mal von einer kleineren Erhebung bei Eschwege abgesehen. Mein Knie findet das gut. Die Sonne zeigt sich jetzt wieder, und schon sehen Landschaften ganz anders aus. Regelrecht lieblich empfinde ich es hier – vor allem das herrliche Werratal, dem ich seit Eschwege ein bisschen folge. Genauer gesagt, bis zum romantischen Örtchen Wanfried. Hier biege ich ab und passiere kurz darauf die Landesgrenze Thüringen. Ein Schild erinnert an die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Ich halte hier kurz an und erinnere mich daran, dass eine solche Tour noch vor 30 Jahren undenkbar gewesen wäre. Hier war die Welt zu Ende – von beiden Seiten. Die gute Message aber: nach 30 Jahren kann man hier den Grenzverlauf nur noch erahnen, die Natur hat sich den ehemaligen Grenzstreifen in weiten Teilen zurückerobert.
Auf Thüringer Seite beginnt jetzt der Mühlhäuser Stadtwald. Was wie ein kleiner Park klingt, ist mit gut 3.000 ha der größte Kommunalwald des Landes – und für heute meine höchste Steigung. Den Rest geht’s dann nochmal entspannt bergab, und schon bin ich an meinem Tagesziel Mühlhausen. Eine Stadt mit Stadtmauer, darin viel Geschichte, Fachwerk, noch mehr Türme und vor allem: Kirchen. Höchster Kirchturm Thüringens: Marienkirche. Skurrilster Name: geht an die Divi Blasii-Kirche, die man aufgrund ihres Baustils wohl irgendwie eher in Frankreich verorten würde. Immerin: Johann Sebastian Bach wirkte hier zwei Jahre lang als Organist. Ich kannte Mühlhausen vorher nur als Pflaumenmus-Hauptstadt, bin jetzt aber umso mehr angetan, welche Schönheit hier in der mitteldeutschen Provinz vor sich hin schlummert.
An meinem Hotel für die Nacht, dem Mühlhäuser Hof, wartet schon meine Mutter auf mich. Sie macht heute quasi einen Streckenbesuch, denn sie wohnt hier mehr oder weniger in der Nähe. Ich freue mich sehr über ihre Gesellschaft, denn so langsam habe ich auf meiner Tour doch genug Einsamkeit erlebt. Gemeinsam erkunden wir die Mühlhäuser Altstadt und deren kulinarische Schätze, die den städtebaulichen aber doch um einiges hinterherhinken. Im Hof einer ehemaligen Mühle am Frauentor (einem der vier Haupttore der gut erhaltenen Stadtmauer) werden wir dann aber doch noch fündig und nach Thüringer Art nahrhaft und bis weit über die Sättigungsgrenze hinaus versorgt. Meine Mutter tritt daraufhin den Heimweg an, ich schaue mit ein paar vereinzelten Gästen in der Hotellobby meinen geliebten Isländern beim WM-Verlieren gegen die Kroaten zu – mit einem trotzigen „Huh!“ ziehe ich mich in mein Zimmer zurück – eine der drei letzten Nächte liegt vor mir, bevor mich „unser scheenes Dräsdn“ wieder hat.