Heute gehen wir es mal entspannt an. Die 119 Kilometer, die ich mir für die heutige Etappe überlegt hatte, sind mir eindeutig zu lang – auf den letzten Metern der Tour will ich mich noch ein bisschen erholen. „Abtrainieren“ könnte man es auch nennen, das klingt irgendwie besser. Mein Plan: radeln, solange es Spaß macht, dann in den Zug steigen. Gesagt, getan: bei traumhaftem Sonnenschein verlasse ich den Mühlhäuser Hof mit mittlerweile 6.274,55 Euro Spendengeld im Gepäck in Richtung Unstrut-Radweg. Die Unstrut, die sich bei Naumburg mit der Saale vereinigt und einem hervorragenden Weinbaugebiet seinen Namen gibt, ist hier noch ein kleines Flüsschen. Es riecht so herrlich nach Sommer! Keine nennenswerten Höhenmeter liegen auf der Strecke, dafür umso mehr romantische Flussauen, verwunschen-verwachsene, schattenspendende Wälder – und zur Mittagszeit der Sechser im Lotto: kurz hinter Bad Langensalza finde ich mitten im Grünen direkt am Fluss einen kleinen Biergarten. Bratwurst vom Grill, ein kühles Radler, während vor mir im Fluss ein paar Ruderboote in der Mittagssonne liegen. Welch ein Glück! Je länger ich auf meine Bratwurst warte, desto mehr fällt mir zwar auf, dass hier scheinbar ein Einsiedler ein ganz schönes Sammelsurium an Gartenkitsch und selbstgezimmerten Verschlägen gehortet hat, aber sei’s drum, ich drehe mich um, und da ist nur diese gemächlich fließende Unstrut, deren Ruhe ansteckend ist.
Nach einer ganzen Weile (ich habe es nicht eilig) ziehe ich weiter, immer entlang der Unstrut, und passiere noch einen Ort mit dem herrlichen Namen „Großvargula“ (Kleinvargula liegt – genau – direkt nebenan). Bald darauf erreiche ich nach ca. 50 Kilometern das Örtchen „Ringleben“, in dem ich genüsslich eine Bahnfahrkarte kaufe. Der Bahnsteig des außerhalb des Orts liegenden Bahnhofs scheint wie ausgestorben, was wohl auch an der Mittagshitze liegt. Bei Ankunft des Zuges eilen noch einige Gestalten wie aus dem Nichts hinzu. Der Zug kommt aus dem nahegelegenen Erfurt und bringt mich an mein Tagesziel: Naumburg an der Saale!
Naumburg hat ein ganz besonderes Flair. 1.000 Jahre Geschichte und der von der Unesco als Welterbe geführte Naumburger Dom auf der einen Seite, junges, kreatives Flair und bunte Läden auf der anderen Seite. Die Fahrt vom Bahnhof durch die Altstadt bis zu meinem Nachtquartier, der Pension mit dem wunderbaren Namen „Onkel Ernst“ ist die reine Freude.
Falko Matte, der Betreiber der Pension, ist einer derjenigen, die diese Stadt mit ihren frischen Ideen mit prägen. Er und seine Frau haben direkt unter der Pension noch den Laden „Brotlose Künste aller Art“, der nicht etwa eine Galerie für gescheiterte Kreative beherbergt, sondern ein Damenmodengeschäft. Nebenher prägt er auch mit seiner Werbeagentur das visuelle Gesicht der Stadt. Im Damenmodengeschäft werde ich begrüßt und bekomme meinen Zimmerschlüssel. Mit viel Liebe wurden hier einige wunderbare Zimmer in diesem alten Gebäude geschaffen, in dem früher tatsächlich mal ein Onkel Ernst eine Schreibwarenhandlung führte. Jedes Zimmer ist ein Unikat. Behutsam restauriert und mit wirklich schönen Ideen als Pension umgebaut. Die Zimmerdecke hat mich besonders begeistet: wo sonst gern abgehängte Gipskartondecken für Ordnung unter alten Altbaudecken sorgen sollen, hat man hier einfach den alten Deckenputz abgeschlagen, die darunter liegende Schilfschicht, die den alten Putz gehalten hat, entfernt und die darunter verborgenen Holzbretter zum Vorschein kommen lassen. Wunderschön und so einfach! Hier fühle ich mich sofort wohl, und hierher werde ich definitiv wieder zurückkehren. Mindestens für ein Wochenende in Naumburg, was aber wohl gar nicht so leicht ist, denn am Wochenende ist die Stadt oft voll und der Onkel Ernst schnell ausgebucht. Glaube ich sofort.
Letzte Amtshandlung für heute: kleiner Stadtbummel und natürlich ein Abendessen. Ich lande bei einem Italiener, der mich mit einigen süditalienischen Leckereien und einem guten Hauswein verwöhnt. Naumburg, du bist eine Reise wert!