Ich stehe früh auf, denn heute habe ich vor meiner Abreise noch so einiges vor mir: 1. die Massage im Spa nachholen, 2. frühstücken, 3. noch eine Runde mit dem Kanu mit dem stellvertretenden Hoteldirektor des Hotel Strandhaus Spreewald um die Hotel-Insel drehen. Und 4. nach all dem möglichst nicht zu spät wieder aufbrechen. Der morgendliche Besuch im Spa ist genau richtig. Noch vor der offiziellen Öffnungszeit werden meine Waden hier wieder fit gemacht, und für die Tour gibt’s noch eine Weihrauch-Creme, die hilfreich bei allerlei Muskel-Themen sein soll. Der Spa-Bereich ist nicht riesig, aber unglaublich entspannend. Es gibt „Ruhewürfel“, moderne hölzerne Häuser, die hier im Grünen am Wasser liegen, in denen man sich nach dem Saunagang ausruhen kann. Der Blick durch die Glasfronten auf die Spree trägt hier nochmal wesentlich zur Erholung bei. Schon wieder ein Ort, den ich unbedingt nochmal besuchen möchte, und zwar mit mehr Zeit!
Nach Massage und ausgiebigem Frühstück bin ich mit Herrn Choschzick, dem stellvertretenden Hoteldirektor, zu einer Bootstour verabredet. Der Bootsverleih ist nur wenige Schritte vom Hotel entfernt auf der anderen Uferseite. Wir drehen eine kleine Runde um die Insel, er zeigt mir noch einige Highlights von der Wasserseite. Der Architekt des Hotels zeichnete hier auch für die Gestaltung der öffentlichen grünen Freiräume auf der Insel verantwortlich. Es gibt einen kleinen Irrgarten, einen Konzertplatz, die schon beschriebene kleine Badestelle – es ist hier ein wirkliches Paradies entstanden! Viel zu schnell sind wir wieder an der Anlegestelle, aber ich habe heute ja auch noch einiges vor mir.
Wie immer heißt es nun: packen, auschecken, Fahrrad satteln. Ich bedanke mich für diese unglaubliche Gastfreundschaft, verlasse die Schlossinsel – und stelle fest, dass sich eine Schraube an meinen Fahrradschuhen gelöst hat. Ich fahre mit Pedalen, die auf der einen Seite eine Click-Halterung haben. Die hierfür nötige Halteplatte ist am Schuh mit zwei Schrauben befestigt. Eigentlich. Eine davon ist am rechten Schuh wohl davongeflogen. Also erstmal einen Fahrradladen ansteuern. Im Zweiradcenter Lehmann frage ich, ob man mir helfen kann. Fix wird eine passende Schraube gesucht, mal eben auf die benötigte Länge gesägt, entgratet und in den Schuh eingeschraubt. Alles ist wieder fest. „Was macht das?“ frage ich. „Ist schon okay“ lautet die Antwort. Vor lauter Rührung und Freude hinterlasse ich gleich eine positive Facebook-Bewertung. Es sind die kleinen Gesten, die nicht viel kosten, die aber bei Kunden hängenbleiben. Wirklich netter Laden!
Die Sonne scheint erbarmungslos, ich bin mittlerweile wirklich spät dran und habe auch heute wieder 83 Kilometer vor mir – Ziel ist Berlin-Köpenick. Ich folge weiterhin der Spree, die langsam größer wird, vorbei an einigen Seen und durch herrliche Wälder. Unterwegs sehe ich Kühe, die im Fluß trinken. Wahrscheinlich machen Kühe das halt, wenn sie Durst haben und sich die Gelegenheit ergibt. Für mich ist das in dem Moment Sinnbild der unglaublich intensiven Sonne, die heute vom Himmel scheint. Ich mache Halt im „Café an der Spree“, einem kleinen urigen Café in Schlepzig, gönne mir dort im Garten einen Eiscafé. Eine halbe Stunde später komme ich durch das Örtchen Köthen und lege eine Badepause am Köthener See ein. An der kleinen Badestelle tummeln sich auch einige Besucher der ortsansässigen Jugendherberge – und ein Rennrad-Pärchen, das hier in der Gegend wohl für einen Tag seine Runden dreht.
Die sandigen Kiefernwälder und Seen südlich von Berlin wecken Kindheitserinnerungen in mir. Hier waren wir früher in Prieros im Urlaub, und hier habe ich auch mit meinem Vater einige Sommertage verbracht. Kiefernzapfen, Sand, Seen – ich habe es als Kind geliebt! Ich erinnere mich, wie ich damals kleine Miniatur-Landschaften in den Sand gebaut habe. Ich baute Straßen für meine Matchbox-Autos, die Kiefernzapfen waren die Bäume am Straßenrand. Das Ganze war für mich eine heile Welt wie ein Zen-Garten.
Von heiler Welt entferne ich mich heute mit jeder Kurbelumdrehung, je näher ich in Richtung Berlin komme. Heute merke ich zum ersten Mal, dass ich körperlich an meine Grenzen komme. Die ruhige, entspannende Spreewald-Landschaft liegt hinter mir, das laute Berlin vor mir. In Königs Wusterhausen eskaliert es. Ich komme in den Feierabend-Verkehr, teile mir die Straße mit laut hupenden Autos und LKWs. Als ich unter der Autobahn des Berliner Rings hindurchfahre, steht der Verkehr, weil es oben auf der Autobahn wohl einen Unfall gab. Feuerwehren, Krankenwagen, Polizei rasen mit ohrenbetäubendem Lärm an mir vorbei. Es stinkt nach Abgasen. Ich bin extrem genervt, habe keine Kraft und keine Lust mehr. Ich sehne mich nach der beruhigenden Wirkung des Spreewalds und bereue, diese Etappe durch den Stadtrand Berlins geplant zu haben. Eine gefühlte Ewigkeit geht es nun an stark befahrenen Straßen entlang, bis ich in Berlin-Grünau wieder ein Stück ins Grüne flüchten kann – im Naturschutzgebiet „Krumme Lake“ fahre ich eine Weile entlang der Dahme. Mein Magen hängt irgendwo in den Kniekehlen, ich habe Durst und will nicht mehr. Für einen Biergarten gäbe ich jetzt mein letztes Hemd, äh Trikot! Und tatsächlich, irgendwann kommt er. Ein typisch Berliner Biergarten, denke ich, biege in die Einfahrt ein – und bin angesichts überbordender bierseliger Berliner Lebensfreude sofort genervt. Verkauft mir eine Wurst und ein Radler, aber sprecht mich bitte bloß nicht an! Gegen Ende dieser Etappe bin ich unglaublich niedergeschlagen, kraftlos, frustriert und genervt. Ich telefoniere mit meinen Kindern und wäre in diesem Moment lieber bei ihnen.
Habe ich mich übernommen? Vielleicht. Hätte ich um Berlin herumfahren sollen? Mit Sicherheit. Nach der Zwischenstärkung im Biergarten schwinge ich mich nochmal in den Sattel und schleppe mich die restlichen Kilometer – meist auf oder neben stark befahrenen Straßen – nach Köpenick, wo ich irgendwann vor dem pentahotel Berlin-Köpenick stehe. „Dit is Berlin“ würde man hier wohl dazu sagen. Für mich ist das heute eine Überdosis Hauptstadt. Ich komme mir hier neben all den hippen Großstadtbesuchern etwas deplatziert vor, wie ich so staubig in der Lobby stehe. Aber immerhin, mein Fahrrad kann in einem abgeschlossenen Raum übernachten – ein Problem weniger. Kaum fällt die Zimmertür hinter mir zu, falle ich auch schon ins Bett, will mich nur mal kurz ausruhen. Zwei Stunden später wache ich auf und habe arge Schwierigkeiten, es trotz des knurrenden Magens noch unter die Dusche zu schaffen. Wichtigstes Ritual, bevor ich dann an Essen denke: Fahrrad-Akku ans Ladegerät hängen! Mir graut vor dem Tag, an dem ich das mal vergessen werde. Was ich jetzt noch nicht weiß: dieser Tag wird kommen!
Abends auf der Hotel-Terrasse gehe ich in Gedanken den nächsten Tag durch – 113 Kilometer liegen vor mir. Ich denke darüber nach, mit dem Zug bis nach Bernau zu fahren, um schneller aus der Stadt zu kommen, und um die Etappe überhaupt zu schaffen: sowohl was den Akku als auch meine Kraftreserven angeht. Ich verschiebe die Entscheidung auf den nächsten Morgen.