Mit 233 Euro Spenden im Gepäck und einem ausgiebigen Frühstück im Bauch starte ich in den Tag. Das Ziel: das Örtchen Liepen am Peenetal, das noch so ursprünglich ist, dass man es auch den Amazonas des Nordens nennt. 109 Kilometer warten auf mich.
Die Strapazen des Vortags stecken mir noch in den Knochen, die Sonne brennt schon wieder unbarmherzig vom Himmel. Ich entschließe mich, heute eine neue Tankstrategie zu testen: ich fahre im Standard-Modus, also mit ganz angenehmer elektrischer Unterstützung. Das bedeutet aber auch, dass ich unterwegs definitiv nachladen muss. Für die Mittagszeit habe ich mir das Örtchen Strasburg auf der Karte ausgeguckt. Klingt gut, hat sicher auch ein paar gute Lokale zu bieten. Trotz des hochsommerlichen Wetters genieße ich die Fahrt sehr, die Landschaft hier ist einfach wunderschön. Man fährt weite Strecken über Nebenstraßen oder Fahrradwege, kaum Autos, kaum Menschen, ganz viel Natur. Vor allem: Seen, Getreidefelder und Mohnblumen, wohin man auch sieht!
Ich komme am Unteruckersee vorbei und verlasse ihn durch den herrlich gelegenen Ort Prenzlau – alte Villen direkt am See! Mein Strasburg schließt sich alsbald an. Pünktlich zur späten Mittagszeit durchkreuze ich den Ort, der in der Realität leider weniger Gemeinsamkeiten mit seinem Namensvetter im Elsass hat als ich erhofft hatte. Wenige bis keine Restaurants. Der einzige Grieche schließt gleich. Einsam wacht nur die obligatorische Dönerbude am Marktplatz. Ich drehe nochmal um und steuere den Imbiss am Ortseingang an. Ich darf hier nachladen, muss mich aber mit allerlei Frittiertem aufhalten. Nach jedem „Gang“ ein Blick auf den Akku. Es dauert länger als erwartet. Okay, noch ein Eis. Noch einen lange auf der Heizplatte eingebrannten Filterkaffee. Was soll’s. Immerhin lädt der Akku. Irgendwann radele ich mit vollem Bauch und nicht ganz vollem Akku weiter durch Mecklenburger Landschaften. Vorbei an Gärten, in denen Leute gemütlich in ihren Gartenstühlen sitzen, deren PVC leise in der heißen Sommersonne vor sich hin dünstet. Es braucht so wenig. Und was mache ich hier? Gegen Nachmittag wird mir klar, dass ich das Rennen gegen die Wolken am Himmel wohl auch heute verlieren werde. Ich erreiche gerade noch eine rettende Landflucht-Ruine am Straßenrand, als sich der Himmel über mir entlädt. Den ehemaligen Stall, in dem ich jetzt stehe, könnte man wunderbar als Büro ausbauen, denke ich, während es draußen gießt, als gäbe es kein Morgen. Irgendwann wage ich es voreilig, mich wieder aufs Rad zu schwingen, doch der Himmel ist noch nicht fertig mit mir. Wenige Kilometer später muss ich wieder absteigen und suche Schutz unter dem Blätterdach eines kleinen Busches. Sinnloses Unterfangen! Ich stehe wie ein Idiot in der Landschaft, warte, warte, warte. Die App „Katwarn“ warnt mich vor starkem Unwetter direkt über mir. Jahaa! Ich merke es! Es ist einer dieser Momente, in denen ich die Idee dieser Tour wirklich hasse. Nach einer gefühlten Ewigkeit steige ich wieder auf und erreiche den nächsten Ort. Der heiße Tee unter dem Dach der Tankstelle fühlt sich großartig an!
Der Tag hält aber auch noch ein paar andere großartige Dinge für mich parat: ich fahre durch die Brohmer Berge, eine mit 153 m überraschend hohe Erhebung. Während ich die Berge hinunter rausche, wähne ich mich eher in einem Mittelgebirge als in Mecklenburg-Vorpommern. Ich komme in Boldekow am herrschaftlich inmitten eines Schlossparks gelegenen Schloss Zinzow vorbei. Ich passiere in Spantekow einen Wald, der aussieht wie ein tausendjähriger Zauberwald. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, und sie müssen dabei normalerweise nicht mal nach rechts und links gucken, denn hier fährt eh niemand lang – außer heute, da erschrecken sie sich, als ich plötzlich heransurre: ein Fuchs kommt zur Rechten zufrieden aus dem Unterholz geschlendert, mit einem erlegten Hasen im Maul. Er sieht mich, ich sehe ihn. Wir stoppen beide. Ihm klappt vor Schreck die Kinnlade herunter, was zur Folge hat, dass ihm sein Abendessen aus dem Maul fällt. Ihm ist das in dem Moment egal, er hält mich für die größere Gefahr, gibt Fersengeld und verschwindet im grünen Nichts. Zurück bleiben ein erlegter Hase und ein erstaunter Städter. „Du Fuchs!“ denke ich und hoffe für ihn (den Fuchs), dass er das später bereut und zurückkehrt, wenn ich wieder verschwunden bin. An diese faszinierende Begegnung werde ich noch sehr oft zurückdenken.
Heute ist es tatsächlich genau 1 km Restreichweite auf dem Tacho, als ich endlich in Liepen ankomme. Und ich bin extrem positiv überrascht: Das Hotel & Restaurant „Am Peenetal“ hatte erst kurz vor Tourstart zugesagt, die Website hatte nicht allzu viel versprochen. Wenn jemand eine bessere Website bräuchte, dann wohl dieses Haus (Update 2020: jetzt sieht’s schon besser aus!): ist man einmal hier, staunt man – über die herrliche Anlage, über die geschmackvoll und hochwertig sanierten Gebäude, über den tollen Wellness-Bereich, den ich aufgrund des Hungers und der Uhrzeit leider nicht ausprobieren kann, und über das Restaurant, das mir im Innenhof den ersten Hornhecht meines Lebens serviert. Dass es Fische mit blau-grünen Gräten gibt, weiß ich erst seit heute und muss das vor Schreck erstmal googeln. Alte Fischer erzählen, Gott hätte wohl etwas zu viel getrunken, als er die Hornhechte erschuf. Hannoveraner Forscher entgegnen neuerdings, das Farbpigment Biliverdin, ein grünes Abbauprodukt des roten Blutfarbstoffes Hämoglobin, sei Schuld an der Verfärbung. Wie dem auch sei, er stammt direkt aus der Ostsee um die Ecke, und er ist köstlich!
Auch hier im Hotel wird heute wieder geheiratet, wie schon am Vorabend am Oberuckersee. Ich ziehe mich in mein Zimmer unterm Dach zurück und schlafe satt und glücklich ein. Vom Peene-Strom und seinen Amazonas-artigen Flussauen habe ich heute nicht mehr viel gesehen, aber morgen ist ja auch noch ein Tag.