Mein erster Blick nach dem Aufwachen geht aufs Meer hinaus. Ich frage mich, ob die Binzer wohl wissen, welchen unglaublichen Luxus sie mit diesem Ausblick haben? Jeden Tag aufs Meer gucken zu können muss großartig sein. Mein Frühstück gibt’s im urigen Untergeschoss der Villa niXe. Hier im Gewölbe-Restaurant serviert man mir alles Erdenkliche direkt an den Tisch. Kein Aufstehen zum Büffet – es ist ein bisschen wie im Schlaraffenland! Mit vollem Mund komme ich ins Gespräch mit meinen Tischnachbarn Margrit und Meinrad, die aus der Schweiz angereist sind, um hier oben an der Küste zu wandern und zu entspannen. Ich erzähle von meiner Tour und erfahre, dass Meinrad ebenso begeisterter Fahrradfahrer war. Und heute vor allem läuft und wandert. Alles eine ganze Ecke extremer als ich es jemals machen werde. Seine Tagesetappen mit dem Rennrad waren eher 200 km lang, ich werde ganz leise. Überhaupt tut er jetzt eher das, was ihm Spaß macht. Schöner Lebensplan! Wir unterhalten uns lange und angeregt. Die beiden bieten mir an, mir ein Bett zur Verfügung zu stellen, wenn ich es mal bis in die Schweiz schaffe. Nicht dieses Mal, aber vielleicht bei einer Fortsetzung bei „Bed for good“? Jawoll, schon deswegen muss es eine Fortsetzung geben! Sie werden mich in den nächsten Tagen auf Facebook begleiten und auf der Tour-Website meine Route dank des GPS-Trackers verfolgen. Aber das Beste ist: sie spenden mal eben 200 Euro für „Bed for good“! Whoop, whoop! Falls ihr das hier lest: Danke für diese Spende – sehr grosszügig (euch Schweizern zu Ehren mit „ss“ statt „ß“). Und danke, dass ich euch kennenlernen konnte, ich fand es sehr inspirierend und motivierend.
Nach dem Frühstück ist vor der Abfahrt, so geht es jeden Tag und auch heute. Zum Abschied gibt’s ein Foto samt symbolischer Spendenübergabe, dann schwinge ich mich aufs Rad. „Bis zum nächsten Mal!“ ruft mir Herr Schewe noch hinterher. Ich komme wieder, keine Frage. Nächstes Mal mit mehr Zeit und ohne Verpflichtungen. Galant versuche ich, die Rentner zu umzirkeln, als ich Binz auf der Promenade nochmal meine Ehre erweise – verbotenerweise, denn hier ist Fahrradfahren nicht erlaubt. Nicht nur hier, sondern auch auf der restlichen Tour von der Insel Rügen hinunter fühle ich mich mit meinem Fahrrad irgendwie etwas deplatziert. Auch die Straßen, die in Richtung Festland führen, haben auf weiten Strecken keinerlei Fahrradwege. 40-Tonner gondeln entnervt hinter mir her und warten auf ihre Chance, mich lahmes Hindernis zu überholen. So schön die Insel auch ist, für Fahrradtouristen ist sie nicht gemacht. Zur fiesen Straßenführung kommt ein schier unglaublicher Gegenwind. Er muss über Nacht gedreht und Kraft getankt haben, um sich mir auch heute wieder mit Leidenschaft entgegenzustellen. Während ich bei grauem Himmel gegen den Wind antrete, denke ich mir einen Witz aus, den es hier aber sicher schon seit 100 Jahren gibt: Kommen sich zwei Fahrradfahrer entgegen. Beide haben Gegenwind.
Im Moment tiefster Demotivation sehe ich auf dem Fahrradweg plötzlich eine Botschaft: „Go, Alex, go!“ steht dort in weißer Farbe geschrieben. Merkwürdigerweise entgegen meiner Fahrtrichtung. Ich bin total perplex. Wer sollte mir das hier hinschreiben? Und wissen, dass ich es genau jetzt am dringendsten brauche? Und wieso verkehrt herum? Ich ahne, dass es hier auf Rügen auch Alexe gibt, und bestimmt ist hier mal einer von denen langgejoggt und brauchte auch eine Motivation. Mir ist das jetzt egal, ich freue mich noch lange darüber. Es nützt aber nichts: ich habe meine Kraft für heute schon so gut wie aufgebraucht, als ich über den Rügendamm, die alte Brücke, die Rügen mit dem Festland verbindet, passiere. Auf der anderen Seite in Stralsund angekommen, beschließe ich, mir heute mal etwas zu gönnen und mich für die erste geschaffte Woche zu belohnen: ich nehme mir etwas Zeit, durch Stralsund zu schlendern, einen Kaffee zu trinken und einfach mal ein bisschen auszuruhen. Dafür werde ich von Stralsund bis Ribnitz-Damgarten ein Stück Zug fahren.
In Stralsund lande ich eher zufällig in einer Eisdiele, in der ich schon mal mit meiner Familie war. Schöne Erinnerung, so weit weg, wie die Familie jetzt ist. Hier halte ich jetzt einen Erdbeer-Eisbecher samt Cappuccino für sehr angemessen. Stralsund ist übrigens ein sehr lohnenswertes Ziel. Zum einen, wenn es im Ostseeurlaub mal regnet und man nicht schon wieder zu Karl’s Erdbeerhof fahren will. Dann kann man hier das Meeresmuseum mit dem Ozeaneum ansteuern – eine interessante Ausstellung von Meerestieren in einem auch architektonisch spannenden Gebäude. Zum anderen, weil Stralsund eine sehr schöne historische Altstadt hat. Als im Jahr 1234 gegründete Hansestadt gehört sie seit 2002 zum Weltkulturerbe.
Mit etwas schlechtem Gewissen warte ich am Bahnhof auf den Zug. Ein paar andere Radreisende hatten bei dem Wind offenbar die gleiche Idee, was meinem Gewissen etwas in die Karten spielt. Auf der recht kurzen Fahrt nicke ich sofort ein und verschlafe die am Fenster vorbeifliegende Landschaft. Ribnitz-Damgarten verschlafe ich zum Glück nicht, und die ca. 25 Kilometer bis zum Strandhaus Ahrenshoop versöhnen mich nochmal mit den unwirtlichen Bedingungen auf Rügen: es geht durch Dierhagen, dann immer auf dem Deich entlang, vorbei an reetgedeckten Häusern, mit dem Meer im Blick. Irgendwann bin ich in diesem herrlichen Künstlerort Ahrenshoop, der heute natürlich nicht mehr ganz so romantisch, sondern schon etwas touristischer geworden ist. Mein heutiges Tagesziel, das Strandhaus Ahrenshoop, ist die kleine Schwester des legendären Luxushotels „The Grand“ (ehemals Kurhaus Ahrenshoop) und nur ein paar hundert Meter von ihm entfernt. Seitdem die Zusage aus Ahrenshoop kam, meine Tour zu unterstützen, war ich in heller Vorfreude auf dieses schöne Hotel! Mein Bike steht hier überdacht neben einigen anderen E-Bikes, die man hier leihen kann – ebenso wie SUP-Boards, mit denen man eine Runde auf der Ostsee drehen kann, wenn sie denn halbwegs ruhig ist. Ich hätte Lust auf eine Runde SUP, habe heute aber zum einen schon genug Sport gehabt, zum anderen wartet noch ein anderes Highlight auf mich: das Hotel lädt mich auf ein Getränk in die Rooftop-Bar der großen Schwester „The Grand“ ein. Und die ist wirklich der Hammer! Von hier oben hat man einen atemberaubenden Blick über die Küste des Darß. Ich beschließe, es wie die Queen zu halten, bestelle einen Gin & Tonic, genieße den Ausblick, lasse mir den Wind um die Ohren wehen, bevor ich nach innen wechsle, um noch eine Kleinigkeit zu essen. Am Tisch neben mir bahnt sich währenddessen eine Romanze an. Das hier ist definitiv der richtige Ort für die Liebe, denke ich: Ganz in der Nähe habe ich vor 16 Jahren das erste gemeinsame Wochenende mit meiner heutigen Frau verbracht. Wieder eine dieser ungeplanten autobiographischen Stationen dieser Tour, von denen noch einige kommen sollen.
Das Hotel rundet seine Spende auf; mit mittlerweile 1.248 Euro Spendengeld schlafe ich in meinem gemütlichen Zimmer unter dem reetgedeckten Dach des Strandhaus Ahrenshoop ein. Morgen früh muss ich ausgeschlafen wirken: erster Pressetermin nach dem Frühstück!