Wir haben ziemlich genau Mitte Juni, das heißt: 15.06.2019. Ich verlasse meine einem Münsteraner Zoodirektor gewidmete und deshalb minimalistisch-animalistisch dekorierte Wohnung im Boardinghouse Münster schon vor dem Frühstück, denn schließlich habe ich zwar eine komplett möblierte Bleibe, in der ich sehr bequem auch noch etwas länger bleiben könnte, der Kühlschrank ist aber leer, und außer meinem unbekannten weißen Pulver und meinen Notriegeln habe ich nichts Essbares dabei. Also stürze ich mich gleich in den Münsteraner Nicht-so-Großstadt-Dschungel, um in einem Café ein Frühstück zu jagen. Beute mache ich in der „roestbar“, die neben unwiderstehlich lecker aussehenden Torten und Kuchen vor allem auch einen anständigen Kaffee verspricht. Neben allerlei Hipstern, Agenturleuten und Studenten sitze ich hier draußen in der Münsteraner Morgensonne, vor mir den Duft eines wirklich guten Cappuccinos und: den Ruf des Ruhrpotts. Von letzterem weiß ich noch nicht so recht, was ich erwarten soll. „Er ist nicht so wie du denkst“ höre ich in Gedanken Pottfans argumentieren. Ich habe eigentlich überhaupt keine Vorstellung, erwarte irgendwas zwischen total abgefuckt und industriell-inspirierend. Mein Ziel heute: Essen. Dort schlafe ich im Hotel an der Gruga, einem der beiden Hotels von Matthias. Genau, der Matthias, von dem ich im Vorwort schon erzählt habe. Er hat mir damals in Sachen Tourmotivation in den Arsch getreten und gesagt “Mach’ diese Tour! Ich bin mit meinem Hotel auf jeden Fall dabei!” Er selbst wird leider nicht da sein, denn er ist im Urlaub, ich verpasse ihn um wenige Tage.
Ich durchquere Münster auf seinem Fahrrad-Highway, fahre bei bestem Wetter aus der Stadt. Am Stadtrand begegnen mir immer wieder selbstgeschriebene Schilder, die sich offenbar gegen die hier ansässige Klinik für forensische Psychiatrie richten. Besorgte Bürger gibt es scheinbar auch hier. Kurz darauf führt mich meine Route am Dortmund-Ems-Kanal entlang. Heute steht weitgehend ebene Landschaft auf dem Programm. Wenig Höhenmeter, nur am Schluss in Essen gäbe es nochmal Berge, behauptet Komoot.
Von Ruhrpott ist noch nicht viel zu spüren, als ich durchs schöne Örtchen Lüdinghausen komme. Hier gibt’s ein ansehnliches Wasserschloss, für mich aber vor allem meinen zum Ritual gewordenen Vormittags-Cappuccino. Der Dialekt des Kaffeehaus-Betreibers verrät mir zumindest, dass ich in der richtigen Himmelsrichtung unterwegs bin. Ich frage mich, ob man sich wohl auch allein anhand von Mundarten durchs Land navigieren könnte? Zumindest wüsste man ganz sicher, wo Osten und Westen ist.
Noch in Olfen fahre ich über herrlich weite Wiesen und sandige Wege. Kaum vorstellbar, dass quasi hinter der nächsten Kurve schon die erste Industriebrache mit ihrem erschreckenden Antlitz auf mich lauert. Tut sie auch nicht. Es ist überraschend grün hier. Zugegeben, die kleinen Städte, die hier so langsam ineinander übergehen (der Ruhrpott ist ja quasi eine einzige Stadt), sind oft von eher rauher Natur. Nicht zart-romantisch, sondern eher mit Hornhaut an den Fassaden. Genauso schnell wie man plötzlich in ihnen ist, ist man aber wieder in irgendeiner grünen Stadtflucht verschwunden. So streife ich die Städte Recklinghausen, Herne und Gelsenkirchen nur. Über weite Strecken geht es an der Emscher entlang. Das kleine Flüsschen ist größtenteils noch in ein Betonbett gezwängt, man arbeitet aber wohl daran, sie wieder zu befreien und zu renaturieren. Wie schön es hier ist, denke ich, auch wenn Schilder vor einem Badestop warnen. Nein: sie verbieten es sogar. An der Emscher erlebe ich zwei eindrucksvolle Dinge. Erstens fahre ich mir nichts, dir nichts durch einen Schwarm von fliegenden Zombie-Tieren (Mücken, Fliegen, was weiß ich) und sehe kurz danach von Kopf bis Fuß komplett schwarz aus. Ich versuche, in voller Fahrt die Viecher abzustreifen und dabei dennoch nicht umzukippen. Hitchcock hätte hier seine dunkle Freude gehabt. Das zweite Erlebnis versöhnt mich: bei einer Pause schaue ich mal wieder meine Mails durch. Das mache ich eigentlich nicht mehr so oft, denn es läuft ja alles im Büro. Eigentlich. In Wahrheit komme ich von dem Reflex nicht wirklich los, gucke also öfter ins Postfach, als es nötig wäre. Heute lohnt es sich aber ganz besonders: Hendrik, leidenschaftlicher Fahrradfahrer und Chef der Telematikfirma YellowFox, deren GPS-Tracker mich wegen des leeren Akkus leider gerade nicht trackt, schreibt mir seine Hochachtung zu meiner Tour. Weiß er zu dem Zeitpunkt schon, dass ich ja „nur“ mit dem E-Bike unterwegs bin? Seine tolle Botschaft: er haut mal eben so 333,33 Euro in unseren Spendentopf. Ich bin in dem Moment wirklich sehr gerührt und bewegt. Ich kenne Hendrik jetzt schon viele Jahre und glaube, dass unsere Zusammenarbeit immer wieder inspirierend für beide Seiten ist. Seit heute schätze ich ihn natürlich noch mehr.
Während ich mich noch über die Spende freue, fliegt das restliche Ruhrgebiet an mir vorbei. Nach dem bald folgenden Ortseingangsschild von Essen geht es noch ein Stückchen an der Ruhr entlang, dann folge ich dem Grugaweg, einer zur Fahrrad-Schnellstraße ausgebauten ehemaligen Bahntrasse, zu meinem Ziel, dem Essener Stadtteil Rüttenscheid. „Rü“ heißt der Stadtteil unter Einheimischen. Die Gegend ist geprägt von herrlichen Gründerzeit-Altbauten, alten Bäumen, schönen Cafés, Kneipen und Restaurants. Bevor ich sie mir fürs Abendessen näher anschaue, checke ich aber erstmal ein und beziehe mein Zimmer, das sich im Innenhof des Hotels befindet. Ich habe sogar eine Privatterrasse mitsamt Wasserlauf und liebevoll angelegtem Garten fast nur für mich. Es ist hier wie eine Oase mitten in der Stadt. Und mein Fahrrad hat sogar eine komplette Garage für sich! Premiere auf der Tour, so etwas gab es noch nicht. Mich erwartet auf dem Zimmer ein erfrischender Obstteller – und: meine neue Vorderachse! Die Versand-Logistik ist glücklicherweise aufgegangen. Unter dem Sonnenschirm der Terrasse gönne ich mir erstmal eine Auszeit mit Nespresso. Dann raffe ich mich nochmal auf in Richtung Rüttenscheider Straße, da, wo sich hier das Leben abspielt. Kneipe an Kneipe. Prächtige Autos cruisen auf und ab. Ich gehe auf Empfehlung ins Lokal von Starkoch Nelson Müller, komme dort aber leider etwas zu spät an. Leider kein Essen mehr. Ich finde aber eine schöne Alternative, esse einen Salat draußen an einem der Tische auf dem Gehweg und genieße die laue Sommernacht. Im Lokal gegenüber wird intensiv Fußball geguckt. Nicht mein Ding, aber ich beobachte amüsiert das turbulente Treiben und Debattieren auf der anderen Seite. Währenddessen auf der Straße: tiefer, breiter, lauter! So isser, der Pott. Wie schade, dass ich das heute nicht mit Matthias erleben kann, denke ich. Wahrscheinlich hätte uns sein Kumpel Nelson Müller sogar nochmal den Herd angemacht.