Neugierig schlurfe ich nach dem Aufwachen aus meinem Baumhaus, denn gestern hieß es „das Frühstück stellen wir auf die Treppe!“. Und tatsächlich, da steht ein Korb, vollgepackt mit Leckereien. Es ist ein bisschen wie zu Ostern. Freudig packe ich die liebevoll zusammengestellten Köstlichkeiten aus (es gibt Obst, Saft, Wurst & Käse, Süßes und knusprige Brötchen), koche mir noch einen Kaffee dazu und freue mich des Lebens. Hier oben mit Blick auf den See frühstücken – es könnte schlimmer sein. Es ist einer dieser Momente, an denen ich die Zeit gern anhalten möchte und einfach noch ein bisschen genießen will. Ein Gedanke, der sich noch durch die ganze Tour ziehen wird. Der Plan sieht aber anders aus, es liegt heute eine Etappe von 83 Kilometern vor mir, und das heißt für mich: duschen, packen, Abfahrt.
Das heutige Tagesziel heißt Lübben und liegt im Spreewald. Dort erwartet mich das Strandhaus Spreewald, ein Spa-Hotel am Wasser. Bisher kenne ich es nur von Bildern, die Vorfreude ist aber groß, genauso groß wie die Freude, als das Hotel zusagte, unsere Tour zu unterstützen. Und zwar nicht nur mit einer Übernachtung und einer Spende, sondern auch mit einer Massage, die ich doch sicher brauchen könne, wenn ich im Hotel ankäme.
Ich nehme heute nicht die kürzeste Route, sondern plane einen Umweg über das Örtchen Burg im Spreewald ein. Hier will ich in der „Blauen Kiste“ unbedingt ein Eis essen! Ein Umweg wegen einer Eisbude? In diesem Falle: unbedingt! Die „Blaue Kiste“ haben wir durch Zufall bei einem Familienausflug entdeckt. Hier bereitet die Inhaberin mit unglaublich viel Kreativität und mindestens ebenso viel Herzblut Eissorten zu, bei denen einem schon beim Lesen des Namens das Wasser im Munde zusammenläuft. Mindestens ebenso überschwänglich freut sich das Auge beim Blick auf die Eissorten, und wenn man sie erst auf der Waffel oder im Becher hat, dann ist das wirklich eine Geschmacksexplosion! Hier geht jemand mit so viel Freude seiner Leidenschaft nach, und das schmeckt man!
Mit dem Gedanken an das Umweg-Eis radele ich in Senftenberg los. Am Ortsrand entdecke ich auf dem Gelände eines Autohauses einen YellowFox-Mini. YellowFox fährt auch bei mir mit – in Form eines kleinen GPS-Trackers, der irgendwo ganz unten in meiner Packtasche steckt und jede Minute meine GPS-Position per Mobilfunk weitergibt – und das angeblich eine kleine Ewigkeit, ohne auch nur einmal nachzuladen. Mit den Freunden von YellowFox, einem mittelständischen Ortungs- und Telematik-Unternehmen aus Kesselsdorf bei Dresden, arbeiten wir schon lange zusammen und kümmern uns um deren Online-Auftritt. Sie sind verrückt genug, uns bei verrückten Ideen zu unterstützen. Der YellowTracker Xtreme, der mich jetzt auf meiner Tour begleitet, steckte kurz vorher in einer Flaschenpost, die wir die Elbe hinab nach Hamburg geschickt haben, um der Superbude, einem unserer absoluten Lieblingskunden, zum Geburtstag zu gratulieren. Erfolgreich.
Schnell noch ein Erinnerungsfoto vom YellowFox-Mini geschossen, dann geht’s weiter entlang an Seen, die bei Google Maps wie herrliche Badeseen aussahen, sich jetzt aber oftmals als abgesperrte Baggerseen entpuppen. Naja, der Spreewald ist ja nicht mehr weit.
„Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?“ Man könnte glauben, dass Goethe diese Worte durch den Kopf gingen, als er von Dresden aus den Spreewald entdeckte. Was sich so aber wohl eher nicht zugetragen hat. Sei’s drum: der Spreewald, eine reichliche Autostunde von Dresden entfernt, ist definitiv so ein Kandidat. Ich rausche so oft an ihm vorbei, um nach Berlin oder Hamburg zu fahren, nur Urlaub haben wir hier noch nie gemacht. Aber immer, wenn wir mit den Kindern mal für einen Tag hier her zum Paddeln fahren, bin ich völlig hin und weg von diesem kleinen Wunder zwischen Berlin und Dresden. Den Punkt der Entschleunigung hat man hier erreicht, sobald man in einem der Paddelboote sitzt und auf den kleinen Kanälen durch die Natur paddelt. Eine traumhafte Ruhe, rechts und links am Ufer überbordende Natur, nur ab und an unterbrochen durch eines der alten Gehöfte – in einigen von ihnen kann man Urlaub machen, andere wiederum dienen wie eh und je der Landwirtschaft. Was viele nicht wissen: im Spreewald wird auch sorbisch gesprochen. Die Sorben sprechen seit eh und je ihre eigene Sprache und haben eine eigene Flagge. Sie sind eine anerkannte nationale Minderheit in Deutschland. So kommt es, dass hier auch alle Ortsschilder zweisprachig beschriftet sind.
Meine Tour ist heute von brandenburgischem Landhunger geprägt. Mittagsgelegenheiten finden sich nicht so wirklich viele. Alle Hoffnungen ruhen auf dem Örtchen Vetschau – und werden jäh enttäuscht. Die autobahnnahen Gelegenheiten wie Tankstelle und Discounter lasse ich links liegen, denn im Ort erwarte ich reichhaltige Gelegenheiten. Die Realität sieht mal wieder anders aus: entweder heute geschlossen, mittags geschlossen, dauerhaft geschlossen oder irgendwie nicht einladend. Ich beschließe, lieber gleich bis Burg weiterzuradeln, zumal sich der Himmel heute zum ersten Mal etwas bewölkt und auf Drama macht. Kaum erreiche ich das rettende „Bootshaus am Leineweber“ in Burg, setzt auch schon ein Sturm ein, der sämtliche Alu-Aschenbecher von den Tischen weht. Überdacht, aber dennoch im Freien, bilde ich eine Bastion aus Räucherfisch, sauren Gurken und einem großen Radler. Gemeinsam trotzen wir dem drohenden Unwetter, das von den Mitarbeitern des Biergartens ständig mit Regenradar-Apps vermessen und professionell beurteilt wird. Tipp: hier ist der perfekte Ort, ein Boot auszuleihen! Am Ende bleibt es aber doch zum Glück recht trocken. Satt und mit aufgefüllter Trinkflasche freue ich mich jetzt auf die kommenden Highlights: es geht jetzt an der Spree entlang bis nach Lübben. Aber erst kommt das Eis!
Nur wenige hundert Meter vom Bootshaus-Biergarten entfernt liegt endlich die „Blaue Kiste“. Ich entscheide mich heute auf Anraten der Chefin für die Sorten „Kaffeeklatsch und Rhabarber“, was sich als eine sehr gute Wahl erweist. Ich freue mich – über das fantastische Eis, aber auch, weil ich mich immer freue, wenn ich Menschen treffe, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben. Denn dann wird es immer gut! Und diese Menschen strahlen meist eine unglaubliche Zufriedenheit aus, die sich automatisch auch auf ihre Kunden überträgt. Ich zumindest stehe glücklich strahlend am Eisstand, wünsche mir dieses Eis auch in Dresden und muss doch akzeptieren, dass daraus nix wird: die Inhaberin macht das Eis selbst, und solange sie hier kein Personal findet, das sie unterstützt, wird das mit der Expansion wohl schwierig. Also beschränkt sie sich auf ihren Laden in Burg, dafür aber richtig. Demnächst soll es aber Eistorten im Tiefkühl-Versand geben. Ich bin gespannt und werde das mit Sicherheit mal ausprobieren. Was sich aber hier schon abzeichnet und mich auf meiner Tour noch oft begleiten wird, ist das Personalproblem, das es in der Branche überall gibt, das in ländlichen Regionen aber noch verschärfter ist. Die „Blaue Kiste“ geht damit schon ganz kreativ um und hängt „Fahndungsaufrufe“ in ihrem Laden auf. Wenn ich irgendwann mal Zeit dafür habe, würde ich jedenfalls gern mal ein Praktikum in der „Blauen Kiste“ machen, mithelfen und der Chefin beim Zaubern über die Schulter schauen.
Zwei Eiskugeln und mindestens doppelt so viele Komplimente später sitze ich wieder auf dem Rad. Knapp 30 Kilometer liegen noch vor mir, und es gilt, den Regenwolken auszuweichen. Die Strecke durch den Spreewald ist umwerfend schön. An Stellen, an denen das Gewitter schon vorbeigezogen ist, steigen mystische Nebelschwaden aus den Wiesen auf. Die Frösche setzen zum Quak-Konzert an. Es geht vorbei an alten Höfen, auf alten Alleen, am Wasser entlang, über Brücken, immer durch herrliche Natur. Irgendwann erreiche ich Lübbenau – ich war noch nie hier und bin erschrocken, wie touristisch es hier ist. Ohne zu bremsen düse ich weiter. Und mache so langsam Bekanntschaft mit einem Problem, das mich noch öfter begleiten wird: es heißt „Restreichweite“. Wenn man morgens startet, verspricht das E-Bike im Standardmodus (also normal-angenehmer Unterstützung) reichlich 100 Kilometer Reichweite. Was das Bike natürlich nicht weiß: Gibt es Gepäck? Wird es Berge geben? Was ist mit Gegenwind? So kommt es, dass die verbleibende Reichweite laut Tacho viel schneller dahinschmilzt als man treten kann. Und wenn der Akku leer ist, fühlt sich das Fahren nicht etwa wie bei einem normalen Fahrrad an – nein, man muss dann auch noch gegen den Motor antreten, und das kostet wirklich Kraft! Mit nur noch 3 Kilometern Restreichweite erreiche ich irgendwann Lübben. Der Radweg neben der Spree bringt mich bis in den Ort, ich muss nicht eine Straße benutzen. Das Hotel „Strandhaus Spreewald“ liegt auf einer üppig begrünten Insel, der Schlossinsel mitten im Ort. Auf dem Weg zum Hotel passiere ich noch die „Spreelagune“, ein öffentliches Strandbad an der Spree. Hier gibt es z.B. ein am Seil über den Fluss geführtes Floß, auf dem einige Kinder mit viel Spaß versuchen, das andere Ufer zu erreichen. Die Hauptspree ist hier nur wenige Meter breit und nicht tief, und die Seitenarme, in denen hier gebadet wird, sind noch kleiner. Es ist hier wirklich eine unglaubliche Idylle.
Kaum komme ich am Hotel an, setzt auch schon der Regen ein. Nochmal Glück gehabt! Das kleine inhabergeführte Boutique-Hotel ist ein wirkliches Juwel. Das alte Stammhaus wurde behutsam saniert, mit vielen modernen Details in die heutige Zeit überführt und um einen Anbau ergänzt, in dem die meisten der 20 Hotelzimmer untergebracht sind. Im Haupthaus befindet sich der großzügige Empfang, das „Wohnzimmer“ mit schicken Sesseln, in denen man zum Lesen versinken kann, und natürlich das Restaurant samt angeschlossenem Biergarten direkt am Wasser. Nach dem Check-In zeigt mir eine Mitarbeiterin mein Zimmer im ersten Stock des Nebengebäudes. Geschmackvoll treffen hier weiße Wände auf viel Eichenholz und Naturstein. Alles sehr schlicht und hochwertig gemacht. Wie sich herausstellt, ist die junge Frau, die mir jetzt mein Zimmer zeigt, genau jene Dame, bei der ich eigentlich einen Massagetermin im Spa gehabt hätte – wenn ich denn pünktlich gewesen wäre. Wir verschieben den Termin auf den nächsten Morgen direkt nach dem Frühstück. Den heutigen Abend verbringe ich auf Einladung im Restaurant, werde von wirklich herausragender, kreativer Küche positiv überrascht und unterhalte mich noch eine Weile sehr nett mit Herrn Karl, dem Hotelier. Auch er erzählt mir, wie schwer es ist, in dieser Region Personal zu finden – und zu halten! Es sind absolut menschliche Probleme, die dem im Weg stehen, erzählt er: selbst wenn junge Leute hierher ziehen, um hier zu arbeiten, werden sie irgendwann feststellen, dass es hier keine Orte gibt, an denen man Gleichaltrige treffen und kennenlernen kann. Abends werden die Bürgersteige hochgeklappt, Club- und Kneipenkultur gibt es eben eher in Berlin als in Lübben.