Bevor ich mich auf den Weg zu meinem letzten Übernachtungsziel mache, biege ich nochmal in den Frühstücksraum bei Onkel Ernst ein. Und bin beeindruckt. Nicht, weil es ein überbordendes Riesenbuffet mit Köstlichkeiten aus Übersee gibt, sondern weil hier für jedes Gästezimmer ein kleiner Tisch bereitsteht, der ganz liebevoll und ganz reichhaltig gedeckt ist. Hinsetzen und losfrühstücken wie bei Muttern. Oder eben wie bei Onkel Ernst.
Mit auf 125 Euro aufgerundeter Spende schwinge ich mich in den Sattel, nur um zwei Häuser weiter schon wieder anzuhalten und im Café Wunderbar noch einen Cappuccino (und ja, ein kleines Gebäck) zu ordern. Heute zelebriere ich dieses Vormittagsritual wohl zum letzten Mal auf meiner Tour. Ich genieße es.
Die heutige Tour führt mich von Naumburg an der Saale entlang nach Weißenfels, dann südlich an Leipzig entlang der zahlreichen Seen des Leipziger Neuseenlands (meist entstanden aus gefluteten ehemaligen Tagebauen) vorbei bis nach Naunhof. Hier befindet sich das Haus Grillensee, eine Ferieneinrichtung des Vereins Kindervereinigung Dresden e.V., den ich mit meinen gesammelten Spenden unterstützen werde. Das Ziel ist, ein Feriencamp für benachteiligte Kinder genau hier auszurichten. 73 Kilometer muss ich heute noch schaffen, dann ist die ganze Tour geschafft.
Die Strecke an der Saale entlang bis nach Weißenfels fährt sich sehr schön. In Gedanken bin ich jetzt aber ständig schon zuhause und nehme die heutige Etappe kaum noch bewusst wahr. Das merkt man auch an der Anzahl Fotos, die man wohl an einer Hand abzählen kann. Armes Weißenfels, das hätte durchaus etwas mehr Aufmerksamkeit verdient.
Nach Weißenfels biege ich von der Saale ab und habe nun einen unglaublich zermürbenden Gegenwind als ständigen Begleiter. Die Gegend um Leipzig hatte ich mir wesentlich romantischer vorgestellt. Stattdessen ist dieser Teil meiner Route eher von Fernverkehrsstraßen gesäumt. Ein paar Highlights gibt es aber dann doch, z.B. das Mittagessen am Cospudener See (ehrliche Fish & Chips in einer Strandbude). Oder das wunderschön romantisch gelegene Café „Brot & Kees“ in einem Hofgarten in Markkleeberg.
Irgendwann bin ich am Ziel im Haus Grillensee. Ferienlager-Gefühl macht sich breit, einige Schulklassen sind hier zu Gast. Ich werde sehr nett empfangen, beziehe mein Zimmer, das in der Regel wohl eher von Lehrern hier urlaubender Schulklassen genutzt wird. Die Kinderreisegruppe, die es sich im Aufenthaltsraum gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht hat, blickt mich erstaunt an und hält mich vermutlich für ein Wesen von einem anderen Planeten.
Das Abendessen gibt’s vom Buffet im Speiseraum. Die Schulklassen hatten natürlich schon viel eher Hunger, und so kratze ich die letzten Schüsseln aus – es gibt aber für erwachsene Radtouristen und vermutlich auch für strapazierte Lehrkörper Bier & Wein diskret an der Rezeption. Mit Einbruch der Dämmerung spaziere ich nochmal an den Grillensee, der eigentlich Naunhofer See heißt. Es ist eine ehemalige Kiesgrube, die man seinerzeit für den nahen Autobahnbau ausgehoben hat. Das klingt unromantischer als der See aussieht. Er ist touristisch bisher kaum erschlossen. Außer mir sind hier nur zwei einheimische ältere Herren, die hier vor einer vermauerten Baracke mit geborgtem Strom auf einem Elektrogrill eine Packung Bratwürste zubereiten. „Wolln se ooch ne Wurscht?“ schallt es mir heimatlich-sächsisch entgegen. Verblüfft von so viel Gastfreundschaft sage ich nicht nein. Mit ebenso verblüffender Geschwindigkeit schafft es der die Wurst ausreichende Rentner, einen Bogen zu Merkel-Flüchen zu schlagen. Früher waren vermutlich sogar die Würste besser. Ich wechsle von Essen zu Schlingen, bedanke mich höflich und täusche Eile vor. Stattdessen genieße ich die Stille des Abends an diesem ruhigen See, bevor ich mich auf den Heimweg mache und mich in die Lehrerkoje haue.