Der frühe Vogel fängt den Wurm! Egal, wie ich die heutige Etappe bis zum 113 Kilometer entfernten Panorama Hotel am Oberuckersee hinter mich bringe: ich sollte früher damit anfangen. Früh stehe ich auf und robbe mit Muskelkater zum Earlybird-Frühstück. Die vieltelefonierenden Rollkofferpiloten sind aber natürlich auch schon da. Beim Frühstück der Entschluss: erstmal mit dem Rad losfahren und gucken, wie es sich heute so rollt. Vor dem Hotel macht sich parallel mit mir noch eine andere Reisegruppe fertig, die aber wohl eher am Ziel sein wird als ich: zig wunderschöne Sportwagen starten brabbelnd zu einer Ausfahrt in den Berliner Morgenhimmel.
Frei nach dem Münchhausen-Prinzip ziehe ich mich heute selbst aus dem (Großstadt-)Sumpf: je länger ich fahre, desto mehr Kräfte setze ich frei, um der Stadt zu entfliehen. Es geht durch schöne Ecken am Wasser entlang, es geht aber auch durch moderne Berliner Klassiker wie Marzahn, Hellersdorf und Ahrensfelde. Es geht vor allem ziemlich oft einfach nur neben oder auf Hauptstraßen aus der Stadt – und die Stadt ist wirklich groß! Unterwegs kommt mir die Idee, man könnte ja mal Vitamin-Booster für Extreeemsportler einwerfen! Ich stoppe in der Apotheke, die mir aber mitteilt, man könne alles bestellen, auf Lager hätte man sowas aber nicht. Die Rollator-Fraktion neben mir hingegen rollert mit vollen Taschen samt Apotheken-Rundschau wieder aus der Tür. Man hat sich hier wohl eher auf die Leiden des Alters eingestellt.
Irgendwann habe ich die Stadt tatsächlich hinter mir, mit einem Mal begleiten mich wieder Felder rechts und links des Wegs. In Biesenthal, gut 40 Kilometer nördlich von meinem Start gelegen, versuche ich nochmal mein Glück in einer Apotheke. Der Apotheker, der mich irgendwie an meinen Vater erinnert, guckt abwechselnd mitleidig in mein ausgemergeltes Gesicht und bewundernd auf mein Tour-Trikot, das den Zweck meiner Plackerei erklärt. Leider nein, auch er müsste meinen gewünschten Vitamin-Cocktail erst bestellen. Aber ja, Wasser dürfte ich mir gern nehmen. Ich ändere meine Doping-Pläne und finde im Ort das kleine Café Auszeit, das mit seinem Innenhof und selbstgebackenem Kuchen wie geschaffen für mich scheint. Ich habe es fast für mich allein, denn eigentlich ist es noch geschlossen. Freundlicherweise macht man für mich eine Ausnahme. Nach erfolgreicher Stärkung ziehe ich weiter. Im kleinen Örtchen staut sich der Verkehr, und bald weiß ich auch, warum: die Straße ist gesperrt, auf der Fahrbahn liegt ein zerbeultes Fahrrad, direkt daneben steht ein Krankenwagen. Mir wird etwas mulmig, ich ziehe den Gurt meines Helms etwas fester.
Ich bin ganz froh, jetzt von der Straße in Richtung Natur abzubiegen – es geht durchs Naturschutzgebiet Finowtal-Pregnitzfließ in Richtung Werbellinsee. Der Werbellinsee war zu DDR-Zeiten eine kleine Legende: hier entstand 1952 eines der größten Ferienlager des Landes, getauft auf den sozialistisch-klangvollen Namen „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“! Was damals abenteuerlich klingendes Traumziel war, ist heute noch immer eine Jugendbegegnungsstätte. Ich war damals nie dort und fahre auch heute auf der anderen Seite des Sees entlang. Es ist wirklich ein wunderschöner See, auf dem heute einige Segelboote in der Sonne glitzern. Leider schickt sich ein Unwetter an, diese Idylle jäh zu beenden. Ein schützender Italiener am Nordufer ist meine Rettung. Ich kehre auf eine Spaghetti Marinara auf rot-weiß karierter Tischdecke unter einem Schirm im Garten des Lokals ein. Und verlängere meinen Aufenthalt um ein paar Cappuccini im Inneren des Ausflugsrestaurants, während draußen eine Sintflut niedergeht. Nach einer gefühlten Ewigkeit wage ich es dann doch und steige im Rest-Regen wieder aufs Rad. Ich bin relativ bald relativ nass, aber die Landschaft nach dem Regen ist wirklich unwirklich-mystisch. Linkerhand ragen abgestorbene Baumstämme aus Sumpflandschaften in den düsteren Himmel, die mich eher an einen apokalyptischen Film als an Berliner Umland erinnern.
Eine Stunde später fliegt ein Schild an mir vorbei – oder ich an ihm: „Willkommen in der Uckermark!“. „Danke, Merkel!“ antworte ich. Sie ist hier aufgewachsen, und wenn sie mal frische Luft schnappen will, fährt sie noch heute hierher. Sie hat diese wunderbare Gegend ein bisschen bekannter gemacht. Dennoch: es ist eine sehr einsame Gegend, das muss man mögen. Ich liebe es. Man nennt die Uckermark wegen ihrer Landschaft auch die „Toskana des Nordens“. Möglicherweise stammt dieser Slogan aber auch aus der Feder einer verzweifelten Tourismus-Agentur. Wer weiß. Ich bin heute jedenfalls ganz froh, dass sich so wenige Menschen hierher verirren. Mit 4 Kilometer Restreichweite komme ich am späten Nachmittag im Panoramahotel Oberuckersee kurz hinter der Ortschaft Warnitz an. Das in einem Waldgrundstück direkt am Ostufer des Sees gelegene Hotel mit herrlichem Spa-Bereich ist ein wirkliches Kleinod. Ich war hier schon einige Male, schließlich ist das mit viel Herzblut von dem Inhaber-Paar geführte Haus seit vielen Jahren Kunde unserer Agentur. Jedes Mal muss ich gleich nach der Ankunft erstmal auf den hölzernen Steg, der aufs Wasser hinaus führt. An dessen Ende, unter dem Dach eines Pavillons, kann man der Sonne beim Untergehen zusehen. Es gibt wenige Orte, die so magisch und so entschleunigend sind wie dieses Hotel an diesem See. Ich kann mich der Magie nicht entziehen, steige die paar Stufen vom Holzsteg ins Wasser hinab und schwimme eine Runde durch den See. Gut abgekühlt, schwinge ich mich anschließend sogar nochmal aufs Rad, fahre an der Uferstraße entlang und kehre in einem Gasthof ein. Nach meiner Rückkehr zum Hotel nehme ich noch einen Rotwein mit Blick auf den See. Der Pavillon auf dem Holzsteg ist jetzt beleuchtet und wirft seinen Lichtschein auf den See hinaus. Erst jetzt wird mir klar, dass ich es geschafft habe: ich habe diese Etappe tatsächlich auf dem Rad bezwungen – 113 Kilometer! Einen ganz wesentlichen Anteil daran hatte der Wille, die Stadt hinter mir zu lassen. Während im Haupthaus eine Hochzeit ihrem Höhepunkt in der Nacht zusteuert, schlafe ich selig ein.